Meine Mutter, Traute, ist am 15. Februar 2025, kurz vor ihrem 99. Geburtstag, gestorben.
Abschied von ihr zu nehmen, fällt mir sehr schwer. Als ich diese Zeilen schrieb, befand sie sich in den letzten Tagen ihres Lebens. Ich wollte sie nicht verlieren und hoffte insgeheim, dass sie ihre damalige Krise überwindet. Das Danach – das würde man gemeinsam mit ihr schaffen. Sie war ehrgeizig und wollte die Dinge selbst lösen.
Kürzlich schrieb ich meiner Schwester nach einem Krankenhausbesuch, dass Traute mir trotz der schwierigen Lage klar machte: „Ich kann das allein.“ Es ging darum, einen Becher Wasser selbst zu halten und daraus zu trinken. Ihre Kleidung lag auf dem Bett, und sie fragte mich mit einem Fingerzeig: „Ist das alles ordentlich, ist alles eingepackt?“ Sie wollte sicherstellen, dass alles bereit war für ihre Entlassung aus dem Krankenhaus. Denn sie wollte nicht im Krankenhaus sterben. Als ich ihr sagte: „Du kommst heute raus und kannst zu Hause sterben“, entspannte sich ihr Körper, und sie legte sich beruhigt ins Kopfkissen. Mit fast 99 Jahren verließ sie vorübergehend den Kampfmodus.
Jedes Mal, wenn ich ihr im Krankenhaus erklärte, wie es um sie stand, fiel es mir schwer. Sie wollte von mir keine Details über Nieren oder Herz hören. „Ist jetzt nicht wichtig!“ sagte sie. Ihr ging es darum, dass alles organisiert wurde, so dass sie selbstbestimmt über ihr Leben entscheiden kann. Die Entscheidung darüber wollte sie selbst in der Hand haben. Wichtig war ihr, dass wir uns um die Dinge kümmerten – auch um die Kleinigkeiten, die in ihrer Lage noch eine Rolle spielten.
Ich war froh, dass sie das AK Wandsbek verlassen konnte. Bereits mein Vater war dort nach einer Bein-OP mit 82 Jahren gestorben. Traute war Anfang Februar 2025 mit einem Oberschenkelbruch ins Krankenhaus gekommen.
Trotz aller Beherrschung konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten, als ich mit ihr sprach und sie kaum noch reden konnte. Sie sah mich an und wartete darauf, dass ich aufhörte zu weinen. Dann schloss sie die Augen und entspannte sich. Als hätte ich es geahnt, sagte sie mir im Krankenhaus eine weitere Bedingung mit einem kleinen Lächeln: Sie wollte sich von uns allen zu Hause verabschieden. Mir schnürte es die Kehle zu – es klang so endgültig. Meine Hoffnung, mein täglicher Blick auf jede kleine Veränderung zum Besseren, verflog in diesem Moment. Ich wollte sie nicht aufgeben.
Seit Ende Dezember 2024 war ich mit meiner Schwester fast täglich bei Traute, nachdem sie mit einer Lungenentzündung ins Amalie-Sieveking-Krankenhaus gekommen war. Es war nicht ihre erste Lungenentzündung und nicht ihr erster Krankenhausaufenthalt deswegen. Doch je schneller sie wieder nach Hause kam, desto schneller erholte sie sich. Genau das passierte auch dieses Mal. Im Januar 2025 wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen. In ihre eigene Wohnung wollte sie jedoch nicht zurück – sie hatte noch nicht die Kraft dazu.

Im Pflegeheim angekommen, verbesserte sich ihr Zustand täglich. Wir begannen bereits, Ausflüge mit ihr zu planen und führten alltägliche Gespräche. Doch dann stürzte sie Anfang Februar 2025 nach dem Aufstehen und brach sich den rechten Oberschenkel. Wir waren nicht erschüttert – bereits am Tag nach der OP saß sie im Bett, machte mit dem Physiotherapeuten ihre Übungen. Wir sprachen mit den Ärzten und ihr darüber, dass sie in den kommenden Tagen nach Hause kommen würde, und begannen mit der Planung. Doch ihr Zustand veränderte sich danach von Tag zu Tag.
Natürlich, mit 98 Jahren klopft der Tod irgendwann an die Tür. Aber vor ihrem Aufenthalt im Amalie-Sieveking-Krankenhaus hatten sie noch ihren 99. Geburtstag am 3. März geplant. Sie wollte ihn mit ihrer Familie feiern – über 20 Gäste sollten kommen: ihre drei Kinder mit Partner:innen, ihre fünf Enkelkinder mit Partner:innen, ihre sieben Urenkel sowie die Neffen ihres verstorbenen Bruders und andere Freunde:innen von ihr.

Im November 2024 waren wir, Kersten und ich, mit ihr noch an ihrem Geburtsort im Heußweg 54 gewesen, wo sie seit ihrer Geburt am 3. März 1926 mit ihren Eltern und beiden Brüdern, Gerd und Heinz, gelebt hatte. Ihr Vater, Wilhelm, hatte das Haus 1915 gekauft und betrieb im Erdgeschoss ein Lebensmittelgeschäft. Ihre Mutter, Alice, arbeitete nicht im Laden – sie war eine klassische Hausfrau.
Traute erzählte mir, wie sie als Kinder am Sonntagnachmittag immer versuchten, an der Schiebetür zur „Guten Stube“ das Kaffeekränzchen ihrer Mutter zu belauschen.



Ihr Geburtshaus gab es seit dem Sommer 1943 nicht mehr – sie war damals kurz vorher mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Gerd im Urlaub auf Fehmarn gefahren. Alice fuhr einige Tage später zurück nach Hamburg, um die Lage zu klären und eine neue Unterkunft in der Lenhartzstraße 10 zu finden. Traute folgte ihr später nach Hamburg. Gerd blieb noch auf Fehmarn.
Bei unserem Spaziergang im November 2024 gingen wir mit ihrem jüngsten Urenkel, Moritz, durch den Heußweg zu ihrer damaligen Volksschule in der Schwenckestraße 98, die sie seit 1932 besucht hatte. Das Gebäude steht noch, aber aus der Schule sind inzwischen Wohnungen geworden. Sie erkannte jedoch noch den Aufgang zur Mädchenschule auf der rechten Seite. Als ich Traute fragte, ob sie gerne zur Schule gegangen sei, sagte sie, dass es für sie diese Frage damals nicht gab. Man musste gehorchen und brav sein – ob einem die Schule gefiel oder nicht, wurde nicht gefragt.


Im März 2023 hatte ich eine Info in die dortigen Briefkästen der Schwenckestraße 98 verteilt, in der es um eine Sintizza, Agnes Geisler, ging, die hier bis 1939 zur Schule gegangen war. Mit Traute sprach ich über Agnes, die wie sie die Groschen sparte für ein Eis bei Ada-Eis in der Osterstraße oder einen Besuch im Urania Kino Ecke Osterstraße/Heußweg. Agnes wurde im März 1943 mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert.
Ich habe häufig mit ihr über ihre Schulezeit im NS-Regime gesprochen. Bei meinen Recherchen stieß ich einmal auf Renate Adler, die im Juli 1942 mit ihren Eltern nach Theresienstadt deportiert wurde. Obwohl ihre Eltern jüdisch waren, durfte sie noch ein halbes Jahr lang Emilie-Wüstenfeld-Schule besuchen, auf die Traute seit 1936 ging. Sie erinnerte sich, dass eine Jüdin eine Klasse über ihr gewesen war, wusste ihren Namen aber nicht mehr. Mittlerweile weiß ich, dass es sogar zwei jüdische Schülerinnen waren. Als ihr Urenkel Oskar im Sommer 2024 auf das Emilie-Wüstenfeld-Gymnasium kam und sie ihn dort abholte, waren ihr viele Namen ihrer damaligen Mitschülerinnen und vieler Lehrerinnen eingefallen.


Bereits 2022 war ich mit ihr und Philip zu Besuch in der Schule gewesen. Wir hatten uns die verschiedenen Räume angesehen und kamen ins Gespräch mit Lehrern und Schülerinnen.





Ab 1942 besuchte Traute das Lehrerfortbildungsinstitut in der Hohen Weide, um später Lehrerin zu werden. Ihrem Bruder Gerd schrieb sie 1944, dass sie Sportlehrerin werden wolle.

Ich habe mit meiner Mutter immer wieder zu verschiedenen Zeiten über die NS-Zeit gesprochen. Sie sprach erst sehr spät über ihr Leben in dieser Zeit. Es fiel ihr nicht leicht. Sie fand die Verbrechen des NS-Regimes furchtbar und widerlich. Gleichzeitig sagte sie aber auch, dass sie in dieser Zeit aufgewachsen sei. Die Nazis kamen 1933 an die Macht, als sie eingeschult wurde. Der Zweite Weltkrieg begann, da war sie 13 Jahre alt. In unserer Kindheit wurde darüber nicht gesprochen oder erzählt. Als ich als Schüler Fragen dazu hatte, schwiegen meine Eltern oder wichen meinen Fragen aus. Mein Vater erzählte lediglich von seiner Gefangennahme 1945 durch die britische Armee in Hamburg. Das er zur Swing-Jugend in Hamburg gehörte, die gerne Jazz-Musik hörte und die Platten vor der HJ im Blumentopf versteckte, erzählte er meinen Kindern, mir nicht. Er war im seiner Schule nicht der einzige.
Auch die anderen Erwachsenen aus unserer Familie sagten nichts oder redeten belehrenden Unsinn (freundlich formuliert)!darüber, wie schlimm alles gewesen sei. Ihre Ignoranz hatte mich damals schon wütend gemacht.
Traute erzählte mir auch, dass in der Familie ihrer Mutter Menschen von den Nazis verfolgt und eingesperrt wurden. Einer wegen seiner Homosexualität, eine Cousine sollte sich von ihrem Mann scheiden lassen, weil er Jude war – was sie nicht tat. Erst in den letzten Jahren erfuhr ich von Helmut Lubowski, der seit 1938 Berufsverbot als Architekt hatte und 1944 als Zwangsarbeiter in Hamburg eingesetzt wurde.
Über ihren schwulen Cousin, Karl-Heinz Roth, konnte sie noch berichten, dass er nach seiner Haftstrafe 1938!zu ihnen nach Hause in den Heußweg 54 kam und dass ihre Mutter ihn zuerst einmal durchfütterte. Er sah furchtbar abgemagert aus. Alice sagte nur: „Er ist hungrig.“ Dass er schwul war und aus dem Gefängnis kam, erwähnte sie uns gegenüber nicht, sagt Traute mir. Über das Gerichtsverfahren habe ich erst vor einigen Jahren erfahren – ähnlich wie über das Schicksal des jüdischen Ehemanns ihrer Cousine.
Der Lehrerinnen-Beruf war für sie nach 1945 passé. 1946 begann sie in der Filiale der Wiener Postbank in den Grindelhochhäusern zu arbeiten. Bis 1950 war sie dort angestellt. Ihre Ehe mit Hans beendete ihre Berufstätigkeit. Auf Drängen ihres Vaters ließ sie sich ihre Rentenansprüche auszahlen. Sie arbeitete nie wieder in einem festen Angestelltenverhältnis, war aber nie nur Hausfrau.
Traute und Hans, mein Vater, hatten sich im Februar 1950 in einem Tanzlokal am Pulverhofsweg in Hamburg-Rahlstedt kennengelernt. Sie heirateten Ende 1950 und wohnten anfangs in einem kleinen Zimmer bei Trautes Bruder Heinz mit seiner Partnerin, Erie, im Eppendorfer Weg.


1952 zogen Traute und Hans in ihre erste eigene Wohnung, in die Smidtstraße 17 in Hamburg-Hamm. Ihr erster Sohn, mein älterer Bruder, Gerd, zog mit ihnen dort ein. Bis heute war sein Geburtstag ein zentrales Passwort für ihre Geräte.





Ich war mit Traute 2021 noch einmal in der Smidtstraße 17 mit Philip dort. Sie hatte sich sehr gefreut. Zwar gab es die damaligen Geschäfte nicht mehr, in denen sie einkaufte, aber irgendwie konnten wir sie noch sehen. Meine ersten beiden Lebensjahre verbrachte ich dort. Traute erzählte mir, dass diese Wohnungen im Krieg zerstört, aber nach 1950 wieder instandgesetzt worden waren. Wenn ich heute die Fotos von ihr aus den 1950 Jahren betrachte, muss sie sich damals sehr gefreut haben, diese 2-Zimmer-Wohnung bekommen zu haben. Sie kostete damals 75 DM.

Auf unserer Tour 2021 zu verschiedenen Lebensorten von Traute hielten wir auch vor der Burgstraße 36 und stiegen aus dem Auto aus. Hier waren wir 1957 hingezogen. Es war ein Neubau, eine 3-Zimmer-Wohnung, in der ab 1961 auch meine Schwester mit lebte.




1967 zogen wir nach Hamburg-Tonndorf, in die Schillstraße 20. Mein Vater hatte das leere Grundstück nach dem Tod seines Vaters 1963 geerbt; seine beiden Geschwister behielten im Gegenzug das Haus am Sonnenweg. Hans und Traute bauten 1966 ein Einfamilienhaus auf dem Grundstück.


Es war keine kluge Entscheidung, denn die Finanzierung bedeutete enorme Belastungen, die Hans erst einmal erwirtschaften musste. Das hieß oft eine 7-Tage-Woche, denn er war selbstständiger Industriefotograf mit einigen Angestellten.
Traute nahm Hans viele Sorgen ab, in dem sie die Buchhaltung übernahm – die Gehaltsabrechnungen, die Ausgangsrechnungen, die Vorbereitung der Umsatzsteuererklärung, die Aufbereitung der Bankauszüge und vieles mehr. Sie entschied sich damals, einen VHS-Kurs zu besuchen, um sich das nötige Wissen anzueignen – und es funktionierte. Ich erinnere mich gut daran, dass auf ihrem Schreibtisch in der Schillstraße immer Handbücher mit Umsatzsteuer-Zahlen auf die Nettobeträge lagen. Parallel dazu gab es eine Art „Sprossenrad-Rechner“. Ich spielte gerne mit dem Gerät, berechnete die Umsatzsteuer und machte Additionen oder Multiplikationen. Traute behielt den Überblick über die finanzielle Lage des Unternehmens meines Vaters und damit auch über unsere Familie. Sie organisierte die Gegenwart und die Zukunft, hielt die Finanzen im Blick und nahm uns Sorgen ab.
Als mein Bruder und ich 1973 auszogen waren, verkauften meine Eltern das Haus und alle Schulden lösten sich auf. Ihr Leben verbesserte sich grundlegend. Zusammen mit meiner Schwester zogen sie in die Oktaviostraße in Hamburg-Marienthal, später dann einige hundert Meter weiter in den Kielmannseggstieg. Dort lebten sie über 20 Jahre – die längste Zeit ihres gemeinsamen Lebens. Es war der Ort, an dem meine Kinder bei Hans und Traute übernachteten, wo wir zu Besuch waren und Geburtstage, Weihnachten oder Ostern feierten. Meine Eltern konnten ihr neues Leben genießen, und ich war immer froh, dass sie endlich reisen konnten, wohin sie wollten.

Nach Hans’ Tod vor 17 Jahren zog Traute ins Forum Alstertal im Kritenbarg in Hamburg-Poppenbüttel. Dort lebte sie 16 Jahre, bis sie Ende Dezember 2024 ins Krankenhaus kam. Sie war sich bewusst, dass sie es nicht mehr allein schaffen würde. So sehr es mich schmerzte, dass sie nicht mehr in ihrer eigenen Wohnung leben konnte, waren es für mich dennoch sehr wertvolle Tage mit ihr. Ich konnte ihr nahe sein, die Gespräche waren nicht mehr die gleichen wie im Kritenbarg, aber mit jedem Tag erholte sie sich – und ich sah sie 100 werden.
Traute war immer ein Teil meines Alltags. Sie baute in Poppenbüttel schnell viele Kontakte auf. Sie wusste um den Wert menschlicher Beziehungen und suchte diese aktiv. Zu ihren Freundinnen, insbesondere ehemaligen Mitschülerinnen, hielt sie immer engen Kontakt. Wenn sie Geburtstage feierte, waren oft Frauen dabei, deren Namen ich nicht kannte oder schnell wieder vergaß. Ich fand es rührend, dass sie eine eigene kleine Beziehungswelt hatte.
Sie war eine sehr bescheidene und großzügige Mutter, die stets versuchte, uns Kindern gerecht zu werden. Schon früh führte sie Buch darüber, wer wie viel Taschengeld bekam oder wie teuer Geschenke waren, damit alle gleich bedacht wurden. Dieses Buch führt sie bis heute – mittlerweile ging es um ihre Enkelkinder. Noch in den schwersten Lebenskrise machte sie die Ansage, die Geburtstagsbeträge für ihre Urenkel nicht zu vergessen, von vierjährigen Jonte bis zum 18 jährigen Max in Januar und Februar.
Auch gesellschaftliche Verantwortung war ihr wichtig. Während meiner „Volksschulzeit“ war sie Elternvertreterin in der damaligen Volksschule Hohe Landwehr. Mir passte das gar nicht, denn am Morgen nach den Elternabenden wurde beim Frühstück oft darüber gesprochen – oder ich wurde bei den Hausaufgaben plötzlich mehr gefordert. Meine Klassenlehrerin war eine einfache und nicht besondere angenehme Person. Es gab „Backpfeifen“, ein Schlüsselbund traf einen schon mal, man wurde mit dem Lineal geschlagen oderf an den Ohren gezogen. Meine Mutter fand das nicht gut und lehnte es ab. Jahrzehnte später erfuhr ich, dass Frau Knobbe in der NSDAP war.
Traute vertraute uns Kindern. Vor der Geburt meiner Schwester wollten sie und Hans noch einmal in den Urlaub fahren. Wo mein Bruder damals war, weiß ich nicht mehr, aber ich verbrachte die Zeit bei unseren spanischen Nachbarn, den Nebots, in der Burgstraße 36. Das war großartig, weil ich dort mit ihren Kindern spielen konnte und wir auch allein in unsere Wohnung gehen durften. „Mein“ Roberto – sein Vater trug den gleichen Namen – schrieb kürzlich über sie:

Sie beschützte uns und sorgte sich um uns. Ich habe unzählige Erinnerungen an meine Kindheit in Hamburg-Hamm und an die ersten vier Schuljahre an der Schule Hohe Landwehr. Andere Kinder in meiner Klasse hatten strengere Regeln – Mittagsschlaf, eingeschränkte Kontakte zu anderen Kindern oder feste Sportvereine. Ich hingegen konnte mich immer frei bewegen, es sei denn, es fand ein Elternabend statt ;-).

Hinter der Wohnung in der Burgstraße lag eine mit Gras bewachsene Tiefgarage. Dort spielte ich oft mit den Nachbarskindern. Ein mürrischer Handwerksmeister hatte auf dem Grundstück seinen Betrieb und beschwerte sich ständig über uns Kinder. Traute stand nicht auf seiner Seite – sie ermahnte uns lediglich, nachmittags während der Mittagsruhe leiser zu sein, aber sie erlaubte uns weiterhin, dort zu spielen.

Meine Eltern machten sich viele Sorgen und suchten ihren Platz im neuen Nachkriegsdeutschland. Sie waren ängstlich und hofften, dass ihnen keine Probleme gemacht würden. Sie wollten einfach durchkommen, vom Wirtschaftswachstum profitieren und nicht über die Vergangenheit sprechen. Trautes Nähe zu uns Kindern war für mich ein großer Schutz. Innerhalb dieses Schutzes konnte ich mich frei entfalten. Sie erdrückte uns nicht mit ihrer Fürsorge. Obwohl ich die Regeln von zu Hause bis heute kenne, hatte ich immer die Chance, meinen eigenen Weg zu gehen. Hans hatte oft Angst – das war nicht schön –, aber Traute verschaffte mir meinen Bewegungsraum.
Ende der 1950er Jahre hatten meine Eltern in Barförde, direkt an der Elbe in der Nähe von Lauenburg, zwei Zimmer auf einem Bauernhof gemietet. Im Sommer verbrachten wir dort unsere Wochenenden. Es war eine wunderbare Zeit voller Freiheit und Spiel. Es gab eine große Sandfläche, und wir konnten in der Elbe planschen. Sobald wir auf dem Hof ankamen, wurde Traute eine andere. Sie entspannte sich, sonnte sich und wirkte viel gelöster als in der Burgstraße. Der Alltag und seine Sorgen rückten in den Hintergrund.



Im Prinzip verbinde ich mit meiner Mutter bis zum Ende ihr Ringen um ihre Haltung. In Barförde und während unserer Urlaube in Dänemark ab Ende der 1950er Jahre, insbesondere in Blåvand, war sie anders: freier und froher. Sie war nicht nur Mutter, sondern auch eine selbstbewusste Frau – jedoch den Lebensvorstellungen der 1950er und 1960er Jahre ausgesetzt. In Barförde war sie mehr sie selbst, einfach eine Frau. Dort waren wir meistens allein als Familie (wenn auch nicht immer), während wir bei anderen Urlauben häufiger mit uns vertrauten Familien zusammen waren. Damit änderte sich ihre Rolle wieder – sie richtete sich stärker auf das Gemeinsame aus, es ging mehr um den äußeren Schein. Später bin ich mit Traute und unseren Kindern noch einmal nach Barförde gefahren. Den Bauernhof gab es nicht mehr, aber wir tauschten Erinnerungen an diese für mich schönste Zeit mit meiner Mutter aus.

Traute suchte immer nach Lösungen. Sie beschützte uns – vor allem unsere Seele. Sie mied Streit, aber wenn es nötig war, konnte sie sich durchaus auf Auseinandersetzungen einlassen. Wenn es um uns Kinder ging, wollte sie helfen, aber nicht auf eine Weise, die uns schadete. Ich erinnere mich ungern an übergriffige Erwachsene, die glaubten, uns Vorschriften machen zu müssen, uns in ihre Bilder pressten und schlechtmachen. Traute ließ das bei uns nicht zu. Wenn sie sah, dass es uns einschüchterte, stellte sie sich an meine Seite und „rettete“ mich aus der Situation. Wenn ich im kindlichen Sinne Mist gebaut hatte, ließ sie mich damit nicht allein – sie stellte sich vor mich. Ich werde nie vergessen, wie sie in einer für mich kritischen Lebensphase da war und mich still begleitete, ohne mir eine Lösung vorzuschreiben. Ich fand sie damals selbst.

Gehadert habe ich mit meiner Mutter in den letzten Jahrzehnten im Umgang mit meiner „kleinen“ Schwester, die für sie eine lebenssichernde Rolle übernahm – neben ihrer Rolle als Tochter. Ich habe Susanne sehr viel zu verdanken. Sie rettete Traute wiederholt das Leben, war die stille Stütze im Alltag, wenn Traute angeschlagen war, und immer für sie da. Ich hingegen war der Sohn, der kam, Geschichten erzählte und für sie präsent war – aber um den „Abwasch“ durfte ich mich nicht kümmern (was ich trotzdem tat). Susanne war das leise und das sichere Netz, in dem sich meine Mutter eigenständig bewegen konnte. Sie polterte nicht wie ich, sondern löste still Trautes Probleme und beschützte sie. Ich bin ihr dafür sehr dankbar. Die letzten Wochen, wo wir beide uns um Traute kümmerte, lernte ich meine Schwester neun kennen: was für eine toller und liebenwerter Mensch!
Traute teilte meine Haltungen und Sichtweisen nicht, war aber stets eine aufmerksame Zuhörerin. Besonders bei erinnerungspolitischen Themen nahm sie Anteil am Schicksal der Opfer. Ich spürte immer eine gewisse Scham über das Geschehene. Aus heutiger Perspektive habe ich den Eindruck, dass sie sich schuldig fühlte. Sie sagte nie zu mir, dass man irgendwann einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen müsse. Sie meinte einmal in einem Gespräch, es sei ihre Jugendzeit gewesen. Sie war sieben Jahre alt, als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen, und 17, als sie auf das Lehrerfortbildungsinstitut ging. Erst in den letzten Jahren sprachen wir darüber – und doch blieb in mir immer die Sorge, dass es ihr schwerfiel, über diese Zeit zu reden.

Meine Mutter hatte immer einen Blick für unsere Kinder, ihre Enkelkinder und später den Urenekeln. Sie nahm deren Entwicklung sehr genau und suchte die Diskussion, wenn sie eine Meinung hatte, ohne sich die Verantwortung einzumischen. Sie war stolz auf ihre Enkelin, Isabel, als sie 2012 auf der 1. Mai-Kundgebung redete und kam extra für sie auf den Fischmarkt dazu. Von Philip schwärmte, wie sehr sich um seinen Sohn kümmert.
Sie verfolgte mit großen Interesse das Engagement von Kersten als Bürgerschaftsabgeordnete der Linken. Sie wurde immer wieder auf Kersten als Abgeordente angesprochen, wenn sie im Fernsehen zu sehen war oder in den Printmedien über ihre Arbeit geschrieben wurde. Sie war stolz auf dieses politische Engagement von Kersten.
Jetzt sind einige Tage vergangen, seit meine Mutter gestorben ist. Meine Gedanken kreisen immer wieder um sie. Es sind nicht nur die Erinnerungen – natürlich auch –, sondern vor allem die Frage: War ich der „brave“ Sohn, den sie sich erhofft hatte? Ich kann sie nicht mehr fragen.
In den letzten Tagen vor ihrem Tod konnte sie nicht mehr sprechen. Was uns blieb, waren Blicke – tiefe, lange Blicke in ihre Augen, in denen ich mich kindlich geborgen fühlte. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie schaffte es nicht mehr, Worte zu formen. Noch kurz zuvor hatte sie mich ermahnt, nicht zu weinen.
Als ich am Morgen des 15. Februar 2025 mit Kersten in ihr Zimmer kam, war sie gerade gestorben. Ich war nicht panisch oder wütend. Ich wusste, dass es passieren würde. Am Tag zuvor hatte ich ihr gesagt, dass ich lieber nicht mehr weiter quatsche, weil sie mir ohnehin nicht widersprechen könne – aber dass ich sie bis zum Schluss begleiten werde.
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