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Holger Artus

„Artus …“ brüllte Frau Knobbe und knallte ihre Hand mit voller Wucht auf mein Ohr

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„Artussss …!“ brüllte sie und knallte mir eine, wenn ich mich im Unterricht nach Auffassung meiner Klassenlehrerin nicht brav verhielt. Es flog auch wiederholt der Schlüsselbund. Beliebt war natürlich das an den Ohren ziehen oder an den Haaren an der Schläfen bei uns Jungs. Das tat besonders weh. Üblich war das Holzlineal auf die Finger.

Ihr Schlachtruf „Artus“ ergab sich im Übrigen daraus, dass wir vier Holger in unserer Klasse 1963 waren.

„Roland Wühlmaus“ nannten wir einen Mitschüler. Er wurde nicht 1963 mit mir zusammen eingeschult, sondern kam später in unsere Klasse. Er wurde ab und an von Magarete Knobbe, meiner Klassenlehrerin in der damaligen Volksschule Hohe Landwehr, am Hosenbund und Schulter angefasst und über den Schultisch geworfen. Dabei fiel er auch schon mal vom Tisch. Ich erinnere mich, das Rolands Familie im Hammer Park damals noch in einer Notunterkunft wohnte (heute steht hier eine Polizeiwache).

Die Schläge an den Kopf, von hinten mit voller Wucht, taten immer sehr weh, waren schmerzhaft. Es dauerte eine bestimmte Zeit, dass ich es zu Hause als kleiner Junge angesprach und meinen Eltern erzählte. Bei uns zu Haus gab es keine Schläger oder anderes. Sie fanden es nicht gut, aber auf den Tisch hauen auf einem Elternabend oder diese Lehrerin zur Rede zustellen, das wollten sie nicht. Elternabende, dass waren für uns Schüler immer sehr schlechte Veranstaltungen, da meine Klassenlehrerin ihn nutze zur “Meinungsbildung” und es morgens am Frühstückstisch die Ansagen gab, was ich wieder schlimmes gemacht hatte. Da es alle Mütter auf dem Elternabend mitbekamen, was man gemacht hatte, wurde schnell ein Bild durch die Klassenlehrerin über uns Jungs geschaffen, aus dem es wenig entrinnen gab.

Heute habe ich Teile ihrer Personalakte von Magarete Knobbe gelesen. Jetzt verstehe ich ihre „Erziehungsmethoden“ sehr gut, was mich nicht weniger wütend macht. Sie war seit 1938 Mitglied der NSDAP.

Nach dem Abschluss 1938 war sie als Lehrerin zu erst im Landlager in Deichhausen beschäftigt. In der NS-Zeit wurden noch nicht in einer Berufsausbildung stehende Jugendliche verpflichtet, an den in den hier durchgeführten Veranstaltungen teilzunehmen. Zum 1. Februar 1939 wurde sie in den Schuldienst eingestellt. Nach der Befreiung Deutschlands 1945 wurde sie aus dem Schuldienst entlassen. Daraus wurde später eine Suspendierung, so dass sie wieder einen Fuß in der Tür des Staatsdienstes hatte. Das nahm sie war. Erstaunlicherweise sind es Personen, die auch anderen Nazi-Lehrer/innen nach 1945 wieder den Zugang zu Hamburgs verschafften.

Liest man ihre Personalbeurteilungen bis in die 1960er Jahre, also auch noch zu meiner Schulzeit, so war da nicht nur ein ehemaliges NSDAP-Mitglied, sondern eine völlig unfähige und ungeeignete Lehrerin. Lese ich diese Beurteilungen, so frage ich mich, warum so jemand auf uns Schüler/innen losgelassen wurde.

Übel wird mir aber auch, wenn ich die Anmerkungen der Schuleitungen und Schulräten lese, die die Fachlichkeit von Magarete Knobbe massiv in Frage stellen, aber dann positives zur Lehrer-Schülerbeziehung schreiben.

Zwar verstehe ich heute, warum die Schulleitung (und vermutlich Personalamt) ab und an bei uns hospitierte, um ihre Leistung zu überprüfen. Ohne jedes Wissen bestätigten diese Personen ihr gute Beziehungen zu den Schüler/innen bestätigt, um wenigstens hier etwas gutes zu schreiben. Wieder auf unsere Schultern.

Erst ihre Schläge, dann ihre Tolerierung und unsere Missachtung durch die Schulleitung. Dabei übersehe ich nicht, dass auch andere sich nicht gegen sie gestellt haben.

Und ja, überall waren NSDAP-Lehrer/in in „unserer“ Schuldienst nach 1945. Das habe ich jetzt auch gelesen bzw. durch die Bücher von Hans-Peter de Lorent an vielen Beispielen gelesen. Wenn dieser Satz aber in der Debatte als Relativierung verstanden wird, das es nicht neues ist, so rührt sich bei mir weiterer Protest. Gestern hatte ich Gespräch mit einem Hamburger Regisseur, der sich in seinen Werken auch immer wieder mit der Erinnerung an die NS-Zeit beschäftigt. Im Rückblick sagte er, dass er einst die Geschichten der NS-Opfer erzählt hat. Später kam für ihn die Erkenntnis dazu, dass er Täter und den Widerstand gegen die Nazi in Szene gesetzt hat. Ihm ginge es jetzt so, dass man die NS-Darstellung um diejenigen ergänzen muss, die von den Nazis profitierten und die wirtschaftlichen Gewinner waren. Aber, man muss auch auf die heutigen Rechtsentwicklungen eingehen und die Gegenwehr in Szene setzen, auch im historischen Bezug auf die NS-Zeit. Sicher banal, weil „wir“ ja auch heute auf die Straße gehen und auf die wirtschaftlichen Interessen der Kapitalisten nicht erst heute argumentieren. Im Kontext zu meiner Klassenlehrerin aus der Volksschule geht es mir aber so, dass ich es nicht wusste und heute empört bin, dass die Schulbehörde sie beschäftigt hatte, dass die Gesellschaft damals nichts dagegen hatte, da sie es nicht wusste. Was wäre wohl gewesen, wenn man meine Eltern zu meiner Einschulung über ihre Nazi-Vergangenheit informiert hätte? Sie hätten es gewusst und ihre Meinungsbildung wäre damals eine andere gewesen oder ihre Innern Konflikte. Sie waren nicht in der NSDAP, ihre Verwandten wurden von den Nazis verfolgt – auch wenn sie nicht groß darüber sprachen, weil sie immer noch Angst hatten, da sie in Nazi-Deutschland aufgewachsen waren.

Ich habe auf dem Zettel, dass in Hamburg körperliche Züchtigungen von Schüler erst 1969 abgeschafft, was damals schon eine pädagogische Peinlichkeit war, dass es vom SPD-Senat erlaubt war. Aber die Rechtslage von 1960 stellte den Lehrern keinen Freibrief aus, wahllos zur körperlichen Züchtigung zu greifen. Erlaubt war das Schlagen mit dem Rohrstock „nur als letztes Mittel“, und zwar „nach gewissenhafter Überlegung in maßvoller Weise“. Verboten waren Ohrfeigen und Schläge an den Kopf und sonstige „gesundheitsgefährdende Prügel“. Schüler sollten nicht der Willkür von Lehrern ausgesetzt werden.

Feigheit nach 1945, dass war und blieb ein Problem mehrerer Generationen. 90 Prozent der Deutschen waren nicht in der NSDAP – aber statt sich der Geschichte verantwortungsbewusst zu stellen, schaut(e) man liebe nach unten und schwieg. Die Nazis hatten es nach 1945 leicht, weil die Mehrheit feige war – bis heute.

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