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Holger Artus

Nichts erinnert an das Daniel-Wormser-Haus im Münzviertel

Auf der Suche nach einer jüdischen Bewohnerin aus der Westerstraße 27 im Hamburger Münzviertel recherchierte ich im Staatsarchiv zur Adresse. Elisabeth Elias wurde am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt/Terezin deportiert. Ihr Name steht heute auf der Namenstafel der Juli-Deportierten von 1942 an der Ganztagsgrundschule Stenschanze.

Die Geschichte der Adresse, auf dem das Daniel-Wormer-Haus stand, kannte ich bis dahin nicht. Günter Westphal von der Stadtteil-Initiative Münzviel gab mir den Impuls, das Thema aufzugreifen. Ich fand fast 60 Namen in der Hausmeldekartei, die hier seit 1940 wohnen mussten und bis 1942 verschleppt wurden. Zwei überlebten.

Ganz in der Nähe des Hannoverschen Bahnhof, seit 1940 der zentrale Ort für die Deportationen von Hamburg in die Gettos und Vernichtungslager im Osten, befand sich in der Westerstraße 27 das Daniel-Wormser. In der NS-Zeit wurde es zu einem sogenannten Judenhaus missbraucht. Es lag in unmittelbarer Nähe des seit 1906 entstandenen zentraler Bahnhof der Stadt im Hamburger Stadtteil St. Georg.

Im „Daniel-Wormser-Haus“, einer Art jüdischer Herberge,  wurde seit 1909 Durchreisenden Unterkunft und Beköstigung gewährt. 1923 übernahm die jüdische Gemeinde aus finanziellen Gründen das Haus vom Unterstützungsverein. 

Das kleine Haus bekam zu Beginn des 20. Jahrhundert den Namen nach Daniel Wormser, der seit 1864 Lehrer an der Talmud Tora Schule war. Er hatte 1884 den Israelitischen Unterstützungsverein für Obdachlose gegründet. Eine Massenauswanderung aus Russland und Osteuropa nach Amerika hatte eingesetzt. Der Hamburger Hafen war die Zwischenstation vor der Einschiffung nach den USA. Das Elend der verarmten Flüchtlinge, die oft wochenlang in Hamburg warten mussten, war groß. 1884 nahm der Unterstützungsverein seine Arbeit auf und versorgte die Notleidenden bis zur Abreise mit einem Nachtquartier und Mahlzeiten, wenn nötig auch mit Kleidung und Reisegeld. Wormser starb 1900.

Irmgard Stein schrieb in ihrem Buch „Jüdische Baudenkmäler in Hamburg“ aus dem Hans Christian Verlag 1984 über das Daniel-Wormser-Haus: „Das Erdgeschoß diente der Aufnahme und für Bürozwecke. Außerdem lagen hier der große Speisesaal und die Küche. In den drei Stockwerken über der Verwalterwohnung lagen die Schlafräume der Heimbewohner. Es gab im Hause neben großen Schlafsälen auch Zimmer mit kleinerer Bettenzahl. Ein Raum war für spät Ankommende bestimmt. Da das Haus in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs lag, war es für Bahnreisende leicht erreichbar. Im Kellergeschoß befanden sich mehrere Wannen- und Brausebäder und die entsprechenden Ankleideräume. Außerdem waren eine Desinfektionsanlage und eine Kleiderkammer dort untergebracht. Die Kosten der Unterbringung und Verpflegung wurden von der Gemeinde getragen, unter Verwendung der Mitgliedsbeiträge des Vereins und der Spenden, die von Gemeindemitgliedern diesem Zweck zuflossen. Während im Jahre 1925 über 5200 Übernachtungen gezählt wurden, waren es im Jahre 1934 mehr als 9000.“ 

Eine von den Personen war Clara Boldes. Sie „kam um 1924 mit ihrer Tochter Margarethe nach Hamburg. Die Anfangszeit verbrachten sie in einer Pension im Stadtteil St. Georg. Jacob Boldes war noch auf Rügen und in Stettin als Reisender unterwegs. Als er in Hamburg eintraf, fand er zunächst im Daniel-Wormser-Haus, in der Westerstraße 27 im südlichen Teil von St. Georg eine Unterkunft, bis die Familie als Untermieter im ehemaligen Gängeviertel der Neustadt, im Bäckerbreitergang 39, wieder zusammenfand.“

Ob das Daniel-Wormser-Haus für die Emigrationsbewegung jüdischer Menschen in der NS-Zeit in Hamburg eine Rolle spielte, ist m.E. bisher nicht erforscht. Zahlen sind mir nicht bekannt. Auf jeden Fall wird es für Verfolgte und Vertrieben einen Platz gehabt haben, um hier kurzzeitig eine Unterkunft finden zu können. Davon sprechen immer wieder einzelne Erzählungen. 

Die Hausmeldekartei der Westerstraße 27 ab 1939 spiegelt zum Teil den Charakter als Anlaufstation für jüdische Menschen – unter völlig anderem Vorzeichen –  um den Beginn des 2. Weltkrieges wieder.

Die Familie Possenheimer hielt sich hier vom 12. Oktober 1939 bis 15. Oktober 1939 auf, um dann nach New York zu fahren. Max Deutschländer zog am 5. November 1940 dort ein und konnte am 28. Dezember 1940 noch nach Haiti fliehen. Ein gewisser Pawel Jakobowski kam hier am 22. Dezember 1940 an und floh am 24. Dezember 1940 nach Jugoslawien. Ein weiterer jüdischer Flüchtling kam aus dem Zuchthaus Bremerhaven am 5. Dezember 1940 unter und floh am 13. Januar 1941 nach Schanghai. Die meisten der 67 Namen verweisen auf zwei Entwicklungen. Das Daniel-Wormser-Haus war nach 1939 ein sogenanntes Judenhaus geworden. 21 Personen mussten am 15. Mai 1941 aus dem  jüdischen Altersheim in der Bleicherstraße 20 in Altona in die Westerstraße 27 ziehen. Paul Drucker war einer von ihnen. Jakob Krajewski schrieb in seiner Stolperstein Biographie über ihn, der er in der Verfolgungszeit häufig umziehen musste und „bei denen er wohnte, wurden selbst Opfer des Verfolgungsapparates. In Blankenese, welches zu Altona gehörte, war er in der Probst-Paulsen Straße 1 und zuletzt in der Blankeneser Bahnhofsstraße 52 wohnhaft, beide Häuser sind unweit des Marktes mit Sicht auf die Kirche gelegen. Schließlich musste er in die Blücherstraße 20 in ein in Altona gelegenes „Judenhaus“ ziehen.“ Seine letzte Lebensstation vor der Deportation am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt/Terezin war das Daniel-Wormser-Haus.

Die Menschen lebten hier seit 1940 entweder bis zu ihrer Deportation oder wurden von hier in weitere „Judenhäuser“ verschleppt. 22 Bewohner:innen wurden von hier am 19. Juli 1942 über den Hannoverschen Bahnhof nach Theresienstadt/Terezin deportiert. Ab dem Zeitpunkt der Deportationen überlebten von den Bewohner:innen nur zwei: Elisabeth Elias und Wolf Feier.

Nach den letzten Massendeportation im Juli 1942 wurde das Haus der jüdischen Gemeinde von der Stadt Hamburg am 18. Dezember 1942 geraubt. 

Die Bombardements der Alliierten vom Juli 1943 zerstören das Haus. Zum 1. Oktober 1952 wurde das Grundstück wieder der jüdischen Gemeinde übereignet. 

Die Westerstraße gibt es heute nicht mehr, an die Geschichte des Gebäudes und dessen Charakter erinnert nichts.

2006 – Bebauungsplan Klostertor 11/St. Georg 41

Die Stadtteilinitiative Münzviertel spricht davon, dass unter dem Pflaster die Geschichte schweigt.

Das soll sich ändern. Dies ist ein erster Schritt.

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