Ansichten

Holger Artus

Ein Gespräch für eine Broschüre

Wann hast du damit angefangen, Erinnerungsarbeit an die Nazizeit zu machen?

Als Betriebsrat der MOPO hatte ich mich konkret ab 2009 mit den sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in der Sternwoll-Spinnerei beschäftigt. Die MOPO hatte bis 2019 ihren Unternehmenssitz in der Griegstraße 75 in Bahrenfeld. Zusammen mit Interessenvertretungen anderer Unternehmen am Standort und aus der Straße sowie dem Eigentümer des Geländes hatte ich am Prozess verantwortlich mitgewirkt. Es gibt seit über zehn Jahren eine Erinnerungstafel. Bis heute organisiere ich hier regelmäßige Erinnerungsaktivitäten. Aktuell steht ein Projekt über acht Stolpersteinen zu sowjetischen Opfern aus dem Lager an.

Seit 2018 wirke ich erinnerungspolitisch im Weidenviertel, zwischen Schlump und Christuskirche, wo ich lebe. Einmal zur Deportation von 1.500 jüdischen Menschen über die Schule Schanzenstraße im Juli 1942, zweitens zu NS-Opfern aus unserem Viertel. Einen besonderen Platz nehmen Recherchen zur Israelitischen Töchterschule ein, deren Geschichte in der NS-Zeit noch weiter erzählt werden kann. Aktuell kümmere ich mich um zwei ihrer Schüler, die im Juli 1942 deportiert wurden, aber mehr ist bisher nicht bekannt. Ein großes Anliegen ist die jüdische Werkschule bis 1941 in der Weidenallee 10bc. Einer von ihnen lebt noch und gerne würde ich nächstes Jahr etwas zu ihm machen. 

Was hat dir den Anstoß dazu gegeben? Vielleicht gab es ein bestimmtes Ereignis, ein Erlebnis eine Begegnung?

Ein Gespräch mit Nachbarn bei der Verlegung eines Stolpersteins 2018. Wer kennt die Redewendung nicht: Eigentlich müsste man was zur Deportation über die Schule Schanzenstraße machen …. Mein Beruf erlaubt nur, dass man etwas macht oder nicht. Schwätzen geht nicht. Meine Kolleginnen und Kollegen in der MOPO hätten mir nicht vertraut. “Sage was du denkst, tue was du sagst.”

Welche unterschiedlichen Aktivitäten hast du im Laufe der Jahre in diesem Zusammenhang entwickelt

Abgesehen von meinen jahrzehntelangen Engagement gegen Rechts, gegen Nazis in meinem gesamten Berufsleben sind es die Themen der NS-Zwangsarbeit, hier im besonderen neben den sowjetischen Menschen vor allem die italienischen Militärinternierten.

Dank der Arbeitsgemeinschaft Neuengamme, der Initiative Dessauer Ufer und dem AK Distomo haben wir heute unsere “Projektgruppe italienische Militärinternierte Hamburg”, die sich um die Erinnerung an diese Zwangsarbeitergruppe bemüht. Für mich im Zentrum stehen die beiden Deportationen über die Schule Schanzenstraße vom 15. und 19. Juli 1942 und die Aufklärungsabeit im Viertel. Aktuell bin ich an einer Aktivität zu KZ-Häftlingen des Dessauer Ufer beteiligt. Die Verfolgung und Ermordung der Roma und Sinti in der NS-Zeit ist zu meinem Thema geworden. Der Ansatz ist immer ein nachbarschaftlicher Bezug, sei es im Angebot, der Vermittlung und der Möglichkeit der Beteiligung der Nachbarschaft.

Ich habe in den letzten Jahren sehr viele Nachbarschafts-Info in Briefkasten verteilt. Die findet man auf den unterschiedlichen Web-Seiten wir www.sternschanze1942.de, www.sternwollspinnerei.de oder https://imiinhamburg.wordpress.com. In der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte der Bauer Media Group, einem der größten Zeitschriftenverlage Europas, bin ich bis heute dran. Hier gibt es eine Web-Seite https://alfredbauerverleger.wordpress.com . Die Geschichte ist nicht zu Ende erzählt. 2023 konnte ich zwei Themen abschließen, andere sind offen. Mein Anliegen ist immer auch, die Gewerkschaften einzubinden. Sie sind Redner:innen auf unseren Kundgebungen oder übernehmen auch die Trägerschaft für Aktivitäten. Das gilt für meine, ver.di und die GEW. Beide sind verlässliche Größen. Es gibt Gewerkschaften in Hamburg, die haben bei dem Thema Schiss.

Den Dialog suche ich beim Thema der NS-Zwangsarbeit immer zu ihnen. Die GEW liegt nahe der wegen der Schule Schanzenstraße. ver.di am Beispiel der Aktivitäten zur NS-Geschichte im Hafen. Hin und da gelingt es mir, Belegschaften einzubinden. Betriebsräte, die eine großen Mund haben, sind eben auch Maulhelden. Für mich können sie keine glaubwürdige Interessenvertretung machen, wenn sie die NS-Geschichte im Hafen einfach nicht behandeln wollen.

Hast du Mitstreiterinnen und Mitstreiter gewinnen können? Wie?

Meine Erfahrungen in der Arbeiterbewegung von über 40 Jahre hat mich gelehrt, dass man immer konkret wirken muss und man eine “Basis” haben muss. Das ist nicht der Betriebsrat oder die Gewerkschaft, dass ist das verstehen der Meinungen und Sichtweisen der Beschäftigten, so dass man sie mitnehmen kann. Bei uns der MOPO habe ich immer gesagt, lass uns das an den Tischen diskutieren und zusammentragen. Bezogen auf die Erinnerungsarbeit bin ich auf das Wohngebiet fokussiert und der dortigen Nachbarschaft. Ich habe keine Tische oder Maschinen, an die ich gehen kann. Es sind die Briefkasten, wo ich Infos reinstecke, die meine Adresse, Mobilnummer und Mail aufführt. Ich erfahre viele Reaktionen, so dass ich schon zu viele “Häusern” Bezüge im Viertel habe. Man lernt sich kennen und trifft sich auf den Kundgebungen im Viertel.

Für unsere Aktivitäten im Viertel suchen wir ständig neue Partner:innen, die man ansprechen kann. So hat das Jesus-Center auf unser Kundgebung zur Erinnerung an die Novemberpogrome aus dem Schulterblatt 2023 kürzlich gesprochen. Wir haben uns kennengelernt über eine Info, die ich in etwa 40 Briefkästen zu sieben jüdische NS-Opfer gesteckt hatte. Dieses Jahr habe ich rund 50 solche Infos verteilt. Deren Auflage liegt zwischen 20 bis 80 Exemplaren. Die Rückmeldungen gehen über 50 hinaus. Um verteilen zu können, muss ich klingeln und komme ins Gespräch. Wenn das mehr als fünf oder sechs Häuser sind, bekommt man ein Stimmungsbild zum Thema. Es gibt immer wieder Situationen, dass Nachbarn zu unseren Kundgebungen kommen und dort das Gespräch suchen.

Es bedarf natürlich auch einer Struktur. Wir sind eine kleine Initiative, die sich anlassbezogen trifft. Das sind unsere beiden Kundgebungen zu den Novemberpogromen und zur Deportation im Weidenviertel. Da wir Nachbarn sind, sehen wir uns regelmäßig und prüfen aktuell von uns selbstaufgeworfene Fragen. Das können auch mal stadteilpolitische Fragen werden. Unser Zielgruppe ist unsere Nachbarschaft, der Dialog mit ihr. Klar, wenn wir etwas verteilen, reden wir über Reaktionen und Gespräche, auch um zu überprüfen, ob unsere Argumentation greift oder wo wir daneben liegen – was dann korrigiert wird.

Mit welchen Widerständen hast du zu tun?

Eine schöne Frage! Widerstände ist die Begleitmusik bei allem tun. Je nach Bezug helfen sie, die Zielsetzungen zu korrigieren und die Bissstärke zu verbessern. Sie verlängern aber auch den Lauf, um Ziele zu erreichen. Das gilt insbesondere dort, wo es um Unternehmen geht. Was tun, wenn ein Unternehmen nicht reagiert? Ich wende mich an die Betriebsräte, an die Gewerkschaften oder die Aufsichtsratsgremien. Ziel ist, keine Blockade zu generieren, sondern nach Türöffner zu suchen. Die Frage für mich ist immer die nach der wirklich nächsten Hürde. Bestimme ich sie richtig oder falsch? Politischer Druck gehört dazu. Hier hat mich mein Berufsleben geprägt, ich bin nicht ängstlich, wenn ich einen strategischen Plan verfolge. Ich erinnere mich aber auch an das “gejammere”, da man in den Tag hin seine Arbeit leistete.

Institutionen neigen dazu, Anregungen und Anfragen immer postiv aufzugreifen. Sie sehen ihr Deutungsmonpol und wollen keine gleichberechtigte Zusammenarbeit. Kulturell drückt sich das in Ritualen und Beziehungsgehabe aus. Mir geht es in der Erinnerungsarbeit um die Sache, anderen geht es um ihre Stellung u.a.m. Das führt zu Herausforderungen und Belastungen. Auch das verlängert Wege zur Zielerreichung und ist nicht schön. Wenn das eintritt, kann man keine „Hürde“ bestimmen, denn es geht um Beziehungen. Ich überlege mir neue Wege oder Zugänge. Das hat den positiven Nebeneffekt, dass man eine autonome Rolle einnehmen kann.

Der dritte Teil der Widerstände sind nach meiner Erfahrung „ideologische“. Es gibt in Kreisen den Hang, alles durch eine Brille zu sehen und darzustellen. Ich erlebe es intensiv auf den 1. September DGB-Kundgebungen in Hamburg, wenn immer die gleichen Gruppen erzählen wollen, was ich denken muss oder wie ich die Welt zu sehen habe. Ihre “Engstirnigkeit” berücksichtigt nicht die tiefgreifenden Veränderungen in unserer Zeit. Sie bestimmen den Kampf gegen Rechts aus einer anderen Zeit und fühlen sich in sich selber offenbar wohler. Mit diesen Gruppen arbeite ich ungerne zusammen. Sie verstecken sich hinter irgendwelchen Plenen, um sich um eine Haltung zu drücken. Mein Berufsleben hat mich gelernt, dass ich schnell Hilfesuchenden eine Haltung zeigen muss. Da habe ich nie auf die nächste Sitzung gewartet. Nichts ist wichtiger als die Dinge einzuschätzen, dazu muss man reden, um die Schlußfolgerungen zu formulieren. Aber sich hinter einer “abgesicherten”, “kollektiven Meinung” zu verstecken, kann ich nicht leiden.

Welche Reaktionen ermuntern und ermutigen dich?

Wenn alles funktioniert, wie man es sich vorgestellt hat und das in Gesprächen reflektiert wird.  Wenn ich schmerzhafte Vorgänge über NS-Verfolgte lese und den Mut der Personen empfinde, es erzählt zu haben. Es bleibt sehr traurig und es fließen auch Tränen, aber es ermutigt mich, mich anzustrengen, Verantwortung zu übernehmen bzw. mich einzubringen.

Welche weiteren Pläne hast du?

Die Planungen für 2024 sind weitestgehend abgeschlossen. Im Januar soll es um eine Erinnerung an niederländische NS-Opfern aus dem Lagerhaus G gehen. Eine Buchvorlesung mit Angehörigen polnische NS-Opfer ist in der Planung.

März und April geht es um die Erinnerung an italienische Militärinternierte in Rothenburgsort, Kontorhausviertel und der Veddel. Wenn alles klappt, soll es mehrere Aktivitäten zur dritten Deportation von Roma und Sinti vom April 1944 in St.Georg und St. Pauli geben.

Im Juli geht es um die Erinnerung an die Juli-Deportation von 1942 über die Schule Schanzenstraße, diesmal wird es vermutlich um die Opfer aus den „Judenhäusern“ in der Schäferkampsallee gehen. Zwei Projekte sind zur Israelitischen Töchterschule geplant.

Im September planen wir eine Aktivität zu den italienischen Militärinternierten. Mit dem HSV bin ich im Gespräch zu dieser Opfergruppe. Im November wird es wieder eine Kundgebung zu den Novemberpogromen bei uns im Viertel geben. Das Thema der Zwangssterilisationen bei Sinti und Roma steht im November. Weitere Themen und Aktivitäten sind im Gespräch, ob daraus 2024 etwas wird, weiß ich noch nicht.

Gerne möchte ich, dass der Name Fritz-Köhne Schule in Hamburg gestrichen wird. Er war mitverantwortlich für den Raubkauf der Schule durch die Stadt 1942. Er war es, der schlimme Nazi nach 1945 in ihrer Stellung als Schulleiter absicherte. Andere Projekte behalte ich im Blick wie z.B. das Wirken der Unternehmen in der NS-Zeit und ihre Täuschungen nach 1945. Den Austausch mit Überlebenden und Angehörigen habe ich ganzjährig im Blick, hier steht ein besonderer Geburtstag an und im Juli 1942 hoffe ich, dass Gäste aus Argentinien auf unserer Kundgebung zur Deportation vom Juli 1942 kommen und sprechen.

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