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Holger Artus

Ein vergessenes IMI-Lager in der „Jahnhalle“ (HT 1816) am Hamburger ZOB

Es gibt immer wieder Anfragen von Angehörigen italienische Militärangehörigen, denen zum Zeitpunkt nicht geholfen werden kann, wie in diesem Fall. Ein zufälliger Fund brachte im Einzelfall Klärung wie auch strukturell eine neue Personengruppe unter den IMI ermittelt werden konnte, die nicht in AOK-Listen oder den Arbeitsamtschreiben von 1944 enthalten sind.

Am 5. und 13. Februar 1945 wurden hunderte italienische Militärinternierte vom Kriegsgefangenen-Stammlager Sandbostel (bei Bremervörde) nach Hamburg verschleppt. Sie wurden dort zur Zwangsarbeit genötigt. Sie mussten in der „Jahnhalle“, einer ehemals riesigen Turnhalle an der Großen Allee der Hamburger Turnerschaft von 1816 (HT 1816), hausen. Heute befindet sich dort die Einfahrt in den Zentralen Busbahnhof (ZOB). Die Halle selbst lag entlang des Kreuzwegs. Die Straße „Große Allee“ heiße heute „Adenauerallee“.

Quelle: Staatsarchiv Hamburg 731-8_A 143

Eine historische Meldekartei beförderte die Zweckentfremdung der Jahnhalle zu Tage, die 1956 abgerissen worden war: Insgesamt umfasst die Liste 479 Namen, überwiegend von Offizieren der italienischen Armee, die seit Herbst 1943 gefangen gehalten worden waren. Entgegen internationaler Konventionen hatten die Nazis im Februar 1945 entschieden, auch italienische Offiziere zur Zwangsarbeit einzusetzen.

Einer der Namen im Register ist der von Adriano Alemanno. Er wurde am 7. September 1923 geboren. Der Sohn eines Berufsoffiziers der königlichen Armee trat nach dem Besuch des klassischen Gymnasiums in die Fußstapfen seines Vaters und absolvierte eine Offiziersausbildung: zunächst an der Militärschule in Mailand, dann von 1941 bis 1943 an der Artillerie- und Ingenieurakademie in Turin. Ab Juli 1943 wurde er nach Jugoslawien entsandt. Am 9. September 1943 wurde er im italienisch besetzten Jugoslawien, in der Nähe von Zagreb, in Jastrebarsko gefangen genommen. Italien hatte mit dem Waffenstillstand vom 8. September 1943 und der anschließenden Kriegserklärung an Deutschland eine politische und militärische Kehrtwende vollzogen. Das Bündnis zwischen den beiden faschistischen Regimen, Italien und Deutschland, war zerbrochen, und Mussolini war seit Juli 1943 inhaftiert.

Nachdem der Waffenstillstand mit den Alliierten am 8. September 1943 verkündet worden war, nahm die deutsche Wehrmacht italienische Soldaten gefangen. Diejenigen, die nicht als Soldaten auf der Seite Nazideutschlands weiterkämpfen wollten, wurden als Zwangsarbeiter deportiert, hauptsächlich nach Deutschland.

Ab dem 14. September 1943 war Adriano zunächst im Stalag III A in Luckenwalde inhaftiert. Es folgten weitere Lager: Am 11. Oktober wurde er in das Stalag 328/z in Tarnopol (ein Außenlager des Stalag 328 in der Sowjetunion) und Ende des Jahres in das Stalag 307 in Deblin-Irena/Polen gebracht. Am 16. März 1944 kam er schließlich im Stalag XB in Sandbostel bei Bremervörde an und musste im gleichnamigen Lager leben. Am 5. Februar 1945 verließ er Sandbostel in Richtung Hamburg. Adriano Alemanno kam in das Zwangsarbeitslager in der Großen Allee 10 und musste später – wie er aussagte – als „Elektroschweißlehrling“ arbeiten.  

Seine Tochter Maria Grazia antwortete auf die Frage, ob und was ihr Vater ihr über die Zeit der Gefangenschaft erzählt habe: „Papa sprach nicht gerne im Detail über diese Zeit, aber wenn er sah, dass wir nicht essen oder unsere Pflicht tun wollten, erinnerte er uns daran, dass er während der Gefangenschaft (er benutzte immer den Begriff „Gefangenschaft“, nicht „Internierung“) Hunger, Kälte und Heimweh gelitten hatte“.

Über die „Jahnhalle“ an der Großen Allee und HT 1816

Die Halle war einst der Stolz des Hamburger Turnvereins von 1816. Der Verein kaufte das Grundstück 1887. Ein Jahr später entstand an der heutigen Ecke Adenaueralle/Kreuzweg mit 1.250 qm2 die größte Turnhalle im Deutschen Kaiserreich. Die Halle wurde  nach Johann Friedrich Jahn benannt, dem später so genannten „Turnvater Jahn“ –  ein nationalistischer Publizist, Politiker und Lehrer. Er war bereits 1852 gestorben, wurde dennoch zum „politischen Soldaten“ und als Vorbild für die Leibeserziehung in der NS-Zeit instrumentalisiert. Für die Nazis war Sport ein Instrument für ihre menschenverachtende, rassistische und militaristische Ideologie. Bereits vor 1933 hatten sich die Nationalisten und Nazis in vielen Sportvereinen verankert. Nach 1933 wurden zunächst jüdische Menschen aus den Vereinen vertrieben. 

In seinen Erinnerungen unter dem Titel „Im Schatten der Synagoge“ berichtet der Maler und Schriftsteller Arie Goral-Sternheim: „Eine Zeitlang turnte ich bei der Turnerschaft von 1816, die in der Großen Allee, auf dem Platz,…, die ihre große Turnhalle hatte. … Ich war der Jüngste und Kleinste in einer Jugendriege. Das Turnen machte mir aber überhaupt keinen Spaß. … Zudem herrschte in der Turnhalle und in der Riege ein unerträglicher Kommandierton. Auch das Lied, mit dem jedes Turnen begann und abschloss, ,Turner auf zum Streite/ tretet in die Bahn/ Kraft und Mut geleite/ euch zum Sieg hinan!‘ war mir zuwider“.

In der Nazi-Zeit diente die Jahnhalle auch als Musterungsstätte, um Turner für die Wehrmacht zu rekrutieren.

Nach Bombardement 1942 wird Jahnhalle zum Kriegsgefangenen-Lager

Im Juli 1942 wurde die Halle von Bomben getroffen und konnte von HT16 nicht mehr als Sportstätte genutzt werden.

Die Stadt richtete in den restlichen Räumlichkeiten ein Kriegsgefangenenlager ein. In den monatlichen Berichten über die Kriegsgefangenenlager kommt die Jahnhalle unter dem Straßennamen „Große Allee“ mit 130 Plätzen erstmals im September 1942 vor.

Verwendung der Ruine der Jahnhalle nach 1945

Nach 1945 war die Jahnhalle weiter in der Verantwortung der Stadt, damals der Sozialbehörde unterstellt, und eine Unterkunft für Obdachlose und Geflüchtete. 1956 wurde die “Jahnhalle” abgerissen, HT16 baute aus dem Erlös des Verkaufs an die Stadt eine neue Turnhalle an der Schwarzen Straße 1/Sievekingsdamm in Hamburg-Hamm, direkt gegenüber dem Tölz-Park. Aktuelle Recherchen haben ergeben, dass sich dort ab Ende 1943 ein Barackenlager für italienische Militärinternierte befunden hatte, die für die Unternehmen im Kohle(Platz)Handel arbeiteten und für die Stadtreinigung (damals Aufräumamt bei der Baubehörde).

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