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Holger Artus

Auf den Spuren von Pietro Giona, IMI bei Wilhelm Schriewer in der Weidenallee 10 b/c

Immer wieder habe ich Anfragen von Angehörigen italienischer Militärangehörigen, ob ihnen bei der Recherchieren vor Ort geholfen werden kann. Es kommt auch hin und wieder zu spontanen Besuchsankündigungen, wie in diesem Fall.

Leicht fiel es Flavia Giona nicht leicht, die Gewerberäume in der Weidenallee 10 b/c zu betreten. Ihr Vater, Pietro Giona, war italienischer Militärinternierter und wurde bis Mai 1945 im Gebäude für das Rüstungsunternehmen Wilhelm Schriewer als Zwangsarbeiter eingesetzt.

. „Mein Vater war 2011 gestorben und er hatte über seine Zeit in Hamburg nicht viel erzählt. In Nazi-Deutschland wurden sie seit dem 8. September 1943 als ‚Verräter’ beschimpft, da sie als einstige Verbündete der Wehrmacht ‚Nein’ gesagt hatten, weiter an der Seite der deutsche Armee zu kämpfen. Als sie 1945 befreit wurden und nach Hause kamen, war die Gesellschaft sich dem ‚Nein’ der IMI nicht bewusst.“ Beim Verlassen des Hauses in Hamburg-Eimsbüttel, sagte sie: „Ich bin froh, diesen Schritt gemacht zu haben. Mein Vater war wieder bei mir und ich war ihm nahe.“

Seit 1942 wurden von Schriewer in den oberen drei Stockwerken von Zwangsarbeitern Munitionskisten für die deutsche Wehrmacht produziert. Zuerst waren es sowjetische Zwangsarbeiter, ab Oktober 1943 italienische Militärinternierte. Im Erdgeschoss wurden 11 IMI als Zwangsarbeiter vom Unternehmen August F.M. Bonhoff eingesetzt.

Schriewer ging in den 1960er Jahren in die Insolvenz und verschwand für immer von der Bildfläche. Bonhoff existiert bis heute. Auf Anfragen zu den IMI äußert es sich jedoch nicht.

„Wir besuchen zur Zeit Hamburg und es ist das erste Mal, dass ich ganz konkret auf den Spuren meines Vaters durch Hamburg gehe“, sagte Flavia. Er wurde am 24. November 1924 in Verona geboren.  Mit 18 Jahren erhielt er am 23. August 1943 die Einberufung in die italienische Armee. Bereits am 9. September 1943 wurden er und seine Kameraden von der deutschen Wehrmacht gefangen genommen. Die italienische Regierung hatte seit dem Sturz Mussolinis im Juli 1943 mit den Alliierten über die Kapitulation verhandelt. Als am 8. September 1943 der Waffenstillstand bekannt gegeben wurde, entwaffnete die deutsche Wehrmacht alle italienischen Soldaten. Sie wurden vor die Alternative gestellt, als Kriegsgefangene angesehen zu werden oder weiter an der Seite Deutschlands zu kämpfen. Über 650.000 von mehr als 800.000 sagten “Nein”.  Um nicht an die internationalen Konventionen zur Behandlung der kriegsgefangenen Soldaten gebunden zu sein, machte Hitler sie eine kurze Zeit später zu „Militärinternierten“. Damit konnten sie u.a. direkt in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden. 

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Die meisten IMI wurden nach Deutschland verschleppt, Tausende auch nach Polen und Frankreich. Pietro Giona gehörte zu denen, die in das polnische Kriegsgefangenen Stammlager (Stalag) nach Olsztynek (Hohenstein) verlegt wurden.

Zwischen September 1939 und Januar 1945 unterhielt die deutsche Wehrmacht das Stalag I B. Im Verlauf seines Bestehens waren hier 160.000 Soldaten verschiedener Nationalitäten inhaftiert gewesen. 55.000 von ihnen, überwiegend sowjetische Kriegsgefangene, kamen ums Leben. „Er erzählte, dass er zunächst sehr schlecht behandelt wurde und sie ihm sehr wenig zu essen gaben. Als er begann, als Bauer in der Landwirtschaft arbeiten, verbesserte sich die Lage etwas.. Auf diese Weise konnten sie etwas mehr essen,“ erinnerte sich Flavia an die Erzählungen ihres Vaters.

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Im Herbst 1944 wurde Pietro mit anderen IMI vom Stalag I B in Polen nach Sandbostel in der Nähe des niedersächsischen Bremervörde verlegt. Sandbostel war wie Hohenstein ein Kriegsgefangenen Stammlager (Stalag) und trug die Bezeichnung X B. Am 30. Oktober 1944 wurde er von hier in das Zwangsarbeitslager in der Schilleroper verlegt.

Bereits die Tage vorher waren IMI aus Sandbostel hier angekommen. Zum 1. November 1944 wurde Pietro im Lager registriert und sollte im Arbeitskommando 1578 in der Schraubenfabrik Schriewer in der Weidenallee 10 b/c zusammen mit anderen IMI arbeiten.

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Zum 1. September 1944 änderte sich die  Bewachung der IMI, die deutsche Wehrmacht war nicht mehr für sie zuständig. Die Unternehmen wollten mehr Leistung aus ihnen herausholen. Im Dezember 1943 hatten sich noch fast alle Hamburger Unternehmer dafür ausgesprochen, die Bewachung der IMI und die Kontrolle des Arbeitseinsatzes durch die Wehrmacht zu organisieren. Der  militärische Drill war nach ihrer Meinung genau das Richtige für die italienischen „Verräter“.  Die Unternehmen übernahmen es jetzt selbst. Wer nicht zur Arbeit kam, wurde der Gestapo gemeldet oder wenn man mit der Leistung und dem Verhalten nicht einverstanden war, kam man für 50 Tage ins Arbeits-Erziehungslager (AEL) Langer Morgen. Die Bedingungen dort waren KZ-ähnlich. 

Formal wurden die IMI zum 1. September 1944 dem Arbeitsamt überstellt. Die Nazi sprachen damals von einem „zivilen Status“, was weder die Unterdrückung oder die Zwangsarbeit änderte. Wenn sich etwas änderte, dann konnten sie sich etwas besser auf dem Schwarzmarkt besorgen, sofern sie etwas zu tauschen hatten.

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Um die Jahreswende 1944/1945 hatte sich das Geschehen im 2. Weltkrieg grundlegend verändert. Die Rote Armee war bis an die Weichsel vormarschiert, in Frankreich war Mitte 1944 die zweite Front eröffnet worden und Nazi-Deutschland wurde immer weiter militärisch geschlagen. Die 1. Weißrussische Front unter Marschall Georgij Schukow überrollte die deutschen Verteidigungslinien im Raum Warschau. Am 17. Januar befreite sie die polnische Hauptstadt. Die Versorgungslage in Deutschland verschlechterte sich. Das erlebten vor allem die Zwangsarbeiter:innen. „Mein Vater sprach öfter vom Hunger, der sein Leben in Hamburg bestimmte“, erinnerte sich Flavia Giona im Gespräch mit Hamburg Gunhild Ohl-Hinz vom Stadtteil-Archiv St. Pauli, die sie vor dem Gerüst der heutigen Schilleroper in Hamburg-St.Pauli begrüßte.

Im damaligen Zwangsarbeiterlager an der Schilleroper mussten Ende 1944 insgesamt 590 IMI leben. Die Zukunft des historischen „Schilleroper“ sei heute ungewiss, so Gunhild Ohl-Hinz, von der heute nur noch das Gerüst der Stahlkonstruktion stehe. Die Eigentümer wollen es abreißen. Die Zivilgesellschaft, die Kulturbehörde und das Denkmalschutzamt sind für den Erhalt. Im Gespräch mit Flavia Giona verwies sie auf die Namenstafel am Baugerüst, die an die sowjetischen und italienischen Zwangsarbeiter erinnert. Der Name ihres Vaters ist hier mit aufgeführt.

Am 3. Mai 1944 wurde Hamburg von der britischen Armee befreit und damit auch alle italienischen Militärinternierten. Pietro Giona kam am 2. August 1945 wieder nach Hause in Verona an.

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