Vier Tage begleitete ich Ende August 2022 ein Podcast-Team aus den Niederlanden bei ihrer Live-Recherche zu Ilse Wagner und ihrer Familie durch Hamburg. 1939 waren die Wagners aus Hamburg in die Niederlande geflohen. 1943 wurden sie von den Nazis in Sobibor und Auschwitz ermordet.
Da die Familie bis März 1939 in der Schäferkampsallee 11 lebte, – bei uns um die Ecke – ich zur Gewinnung von Paten:innen für die Stolpersteine der Wagners einige wenige Zeilen über sie geschrieben und in der Nachbarschaft verteilt hatte, kam es zum Kontakt durch das Podcast-Team. Meine Rolle war nicht inhaltlich, sondern gewissermaßen der Vermittler vor Ort, für die Gewinnung von Gesprächspartner:innen, die Klärung von Terminen und anderen Orga-Kram.
Die Produktion eines Podcasts, Gespräche führen und eine Live-Recherche, das scheint mir eine schwierige Vorgehensweise zu sein, so mein Eindruck nach den vier Tagen. Es sind, bei allen Herausforderungen, getrennte Vorgänge und jeder einzelne Prozess dürfte herausgefordert sein. Aber es war für mich eine neue Erfahrung, in einer anderen Rolle des Begleiters und nicht des Treibers gewesen zu sein. Nicht für den Output und das inhaltliche verantwortlich zu sein, ist eine entspannte Aufgabe gewesen. Und mit der Brille des. sonst “Getriebenen” war es sehr informativ gewesen, was es noch für Potenziale in der eigene Recherche zu erschließen wäre.
Patty-Lou Middel-Leenherr und Richard Grootbod produzieren eine Podcast in niederländisch und englisch für Schulen und öffentliche Einrichtungen in den Niederlanden wie sie auch die üblichen Vertriebswege erschließen wollen, um den Content zu vermarkten. Sie sollen sechs oder sieben Episoden zu Ilse Wagner und ihrer Familie erstellen. Dafür reisen sie durch Europa und waren auch schon in Israel, sprechen mit Zeitzeugen. In der Recherche arbeiten sie mit Janny von der Molen zusammen, einer Buchautorin aus den Niederlanden.
Bevor die beiden mich wegen ihres Besuchs und möglicher Gespräche in Hamburg auf Ilse Wagner ansprachen, die am 26. Januar 1929 geboren wurde, gab es relativ wenig Wissen über die Familie aus der Schäferkampsallee 11 in Hamburg. Durch die internationalen Kontakten von Janny van der Molen und ihres Netzwerks hatten sie schon ordentlich etwas zusammengetragen. Dass es gerade in der Geburtsstadt von Ilse Wagner so wenig zu finden gibt, lässt mich verärgert zurück. Faktisch hat der Besuch in Hamburg und ihr Motiv, etwas zu finden, nicht zu wesentlichen neuen Informationen geführt, sieht man einmal von der Heiratsurkunde von Salomon und Johanna Wagner ab. Für deren Podcast, der sich wohl mehr l mit dem Weg der Recherche zu befassen wird, werden sie für ihr Storyboard das bekommen haben, was dort aufgeschrieben stand.
Im Wesentlichen gab es Begegnungen und Gespräche für den Podcast, die die Herausforderungen der Recherche zum Gegenstand hatten oder zum Ausdruck brachten. Es ging um das vorhandene Wissen zum Leben der jüdischen Menschen in der NS-Zeit bei uns im Viertel. Der Besuch in der Gedenkstätte der Israelitischen Töchterschule und der Austausch mit deren Leiterin, Anna von Villiez, war sicher etwas besonderes, da die beiden nicht nur die erhalten gebliebenen Schulräume sehen konnten. Das Gespräch über die Schule, über Zeugnisse und die Diskussion an Hand von Klassenfotos führten sie auch in die Zeit eines schönen Lebens in der jüdischen Schule zurück.
Die Historikerin, Sybille Baumbach, vermittelte ihnen für den Podcast ein Bild vom Leben in den Straßenzügen rund um die Wohnadresse der Wagners in der Schäferkampsallee. Sie wohnten seit 1927 im Erdgeschoss, die andere jüdische Familie, die Belmontes, lebte im 2. Stock der Schäferkampsallee 11, um die es im Gespräch auch ging. Wie Salomon Alfred Wagner wurden auch die beiden Brüder Paul und Salomon Belmonte am 10. November 1938 während der November-Pogrome von der Polizei verhaftet und waren im KZ Sachsenhausen. Nach dem bisherigen Stand war Salomon Wagner Prokurist in der Bank Hesse, Newman. Banken pflegen die Darstellung ihrer Unternehmensgeschichte, um die man sich also kümmern sollte. Allerdings ist es im konkreten eine Herausforderung, da das Unternehmen heute Teil eines PE-Fonds ist.
Im Gespräch mit Bärbel Klein ging es um die vorliegenden Informationen ihrer Recherche. Sie schreibt für die Hamburger Stolpersteine an der Biographie für Ilse Wagner. Ihre Kontakte zur Gedenkstätte Sobibor erweiterte das Netzwerk der beiden Frauen aus den Niederlanden. Im Interview ging es um die Stolpersteine und die Arbeit von Bärbel. In bewegten Worten erzählte sie über ihr Motiv. Auch der Austausch mit dem Paten der Stolpersteine für die Wagners vor der Schäferkampsallee 11 war eine tolle Begegnung. Ganz schnell waren sie im Gespräch in der Neuzeit.
In den vier Tagen wurden viele tausende Schritte zurückgelegt. So besuchten wir auch das Haus im Grindelhof 69, wo die beiden vor der Schäferkampsallee 11 wohnten. Zum Zeitpunkt ihrer Eheschließung, 1927, lebten sie noch in der Heinrich-Barth-Straße 11.
Am letzten Besuchstag gab es noch ein Gespräch im Staatsarchiv zur Rolle und deren Möglichkeiten bei der Recherche. Große Freude kam auf, als Janny und Patty-Lou die Heiratsurkunde von Johanna und Salomon Wagner sahen. Dabei ging es mehr darum, dass es überhaupt neue Dokumente gab. Aus dem Gespräch konnten noch weitere Recherche-Hinweise identifiziert werden, denen nachgegangen werden wird.
Renate Adler, Emilie-Wüstenfeld-Schule – auch die Schule von Ilse Wagner?
Dass sich am Ende auch noch ein Bezug zur Deportation am 15. Juli 1942 ergab, bedeutet für mich eine eigenständige Nachdrehe, die aber noch aufbereitet werden muss. Da es bisher keinen Nachweis des Schulbesuchs von Ilse Wagner in der Israelitischen Töchterschule gibt, hatte ich in den Anmeldungen der Schule Schanzenstraße gesucht – und nichts gefunden.
Auf Hinweis von Anna von Villiez und der Recherche im Staatsarchiv fiel ich über den Namen von Renate Adler, die bis 1938 auf die Emilie-Wüstenfeld-Schule nach dem bisherigen Stand ging, so dass ich jetzt die Schule angeschrieben habe, ob sie Anmeldungen von 1935 bis 1937 haben, um auch hier nach Ilse Wagner zu schauen. Renate Adler wurde am 15. Juli 1942 über die Schule Schanzenstraße deportiert und überlebte den Holocaust.