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Holger Artus

Stationen von Berthie Philipp, z.B. Schlüterstraße 44

Zur Aktivität vor der Bundesstraße 43 am 14. Juli 2022 gehört, über einzelne NS-Opfer etwas mehr zu erzählen, wo es Angehörigen-Bezüge von mir gibt. Die Unterlagen von Berthie Philipp sind sehr spannend, da sie überlebt hat. Dabei überließ sie es nicht den Anwälten, in ihrer juristischen Sprache die Dinge zu erzählen, sondern sie hat sich von einem Standpunkt eingemischt, der sich nicht an der „herrschenden Meinung“, sondern ihre Kriterien als Opfer. Hier das Info:

Das Wiedergutmachungsamt wollte nur die Möbel erstatten, die über ein Aktionshaus in der NS-Zeit erlöst wurden, sie alles, an was sie vor der Einweisung in die Bundesstraße 43 hatte. Sie wollte das zerstörte Grab ihrer Eltern auf dem Ohlsdorfer Friedhof wieder erneuert wissen u.v.a.m. – und setzt sich nach Jahren durch. Verteilt habe ich Nachbarschafts-Infos an verschiedenen Lebensorten von ihr, zu erst in der Schlüterstraße 44.

Berthie Philipp wurde am 15. Juli 1942 über die Schule Schanzenstraße am Bahnhof Sternschanze nach Theresienstadt/Terezin in der CSR deportiert. Sie gehörte zu den wenigen Überlebenden der letzten beiden Massendeportationen jüdischer Menschen aus Hamburg. Am 15. und 19. Juli 1942 wurden insgesamt 1.700 Menschen ins Getto verschleppt. Ich wohne in der unmittelbaren Nähe der Schule und bemühe mich seit einigen Jahren mit Nachbarn darum, dass dieses Ereignis über die Schule Schanzenstraße nicht in Vergessenheit gerät. Dieses Jahr ist der 80. Jahrestag der Deportation.

An verschiedenen Orten finden Aktivitäten dazu in Hamburg statt. So wird z.B. am letzten Wohnort von Berthie Philipp in Hamburg, in der Bundesstraße 43, eine Erinnerungstafel vor dem Haus übergeben, die an die 150 Verschleppten im Juli 1942 nach Auschwitz und Theresienstadt/Terezin erinnert. In der Hallerstraße 45 wird ein Stolperstein für Hilde Dublon verlegt, eine 18-jährigen Frau, die Theresienstadt/Terezin nicht überlebte. Zu einzelnen NS-Opfer haben wir uns vorgenommen, über deren Lebensstationen an verschiedenen Orten zu informieren. So auch Sie mit diesem Schreiben. Es gibt auf dem Schulhof am 15. Juli 12022 eine Kundgebung in den Vierteln um den Bahnhof Sternschanze. Mehr erfahren Sie darüber auf der Web-Seite www.sternschanze1942.de.

Schlüterstraße 44

Rudolph Philipp war mit Berthie, geborene Sophar, verheiratet. Sie lebten von 1919 bis 1930 in der Schlüterstraße 44. Er war Musikkritiker und ein bis zum Machtantritt der Nazis bekannter Hamburger Komponist. Er war langjähriger Redakteur für den “Hamburger Anzeiger”, eine linksliberale Zeitung. Zu seinem 70. Geburtstag 1928 zog er sich von dieser Tätigkeit als Zeitungsautor für den “Hamburger Anzeiger” zurück, komponierte und unterrichtete. Der Rundfunk war Mitte der 1920er Jahren entstanden und wurde damals langsam Massenmedium. Bis 1933 produzierte Rudolph noch Musikstücke für die Rundfunksendungen der NORAG (heute würde man vom NDR sprechen).  Der “HA” war eine der größten Zeitungen in der Weimarer Republik mit einer gedruckten Auflage von 150.000 Exemplaren. Er erschien vor allem in der Stadt, weniger in den umliegenden Gemeinden Hamburgs. Es verstand sich als liberales Blatt. Deren langjähriger Chefredakteur war in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die als linksliberaler Partner mit dem SPD in Hamburg den Senat stellten. Herausgeber war damals der Kölner Giradet-Verlag. Unter den bürgerlichen Zeitungen stand der HA “am weitesten links”, war ein dezidiert republikanisches Blatt, dass die Demokratie gegen radikale Kräfte verteidigen wollte. Dazu gehörte die offene Kritik an der NSDAP. So schrieb der damalige Chefredakteur Winbauer in einem Leitartikel zum »Brodeln der Unsachlichkeit und der Negation«, die von den Nationalsozialisten ausgehe. Auf den Hamburger Lokalseiten wurde der Antisemitismus der Nationalsozialisten als »himmelschreiende Kulturwidrigkeit” bezeichnet. Sie gehörte zu den ersten Zeitungen 1933, die von der neuen Ordnung verboten wurde, neben denen der KPD und SPD.

Berthie Philipp schrieb bis zum Machtantritt der Nazis in Hamburg für den Rundfunk Erzählungen. Sie sollen unterhaltenden Charakter gehabt haben. Zwei Titel aus dieser Zeit sind bekannt. “Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht” und “Prinzessin Tausendschön”. Es kann gut sein, dass diese Werke in der in der Schlüterstraße 44 entstanden sind. Leider sind diese Manuskripte wie auch Rudolph Philipps Werke alle nicht erhalten geblieben. Nach Rudolphs Tod 1936 hatte Berthie seine mit Bleistiften erstellten Kompositionen abschreiben lassen und in einen Safe sichern wollen. Aber nach ihrer Deportation wurde der Inhalt den Nazi von der Bank zur Verfügung gestellt. Davon betroffen waren auch von ihr bislang unveröffentlichte Stücke. Seit Mitte 1933 hatte das Paar Berufsverbot über die Organisation der Kulturschaffenden erhalten, da sie eine Zulassung über die Reichskulturkammer benötigt hätten. Juden:innen durften in der Organisation aber nicht Mitglied sein. Zu diesem Zeitpunkt, 1932, wohnten bereits in der Isestraße 51.

Nach dem Tod von Rudolph Philipp 1936 und unter den Bedingungen der Verfolgung der jüdischen Menschen änderte sich die finanzielle Lage für Berthie Philipp. Sie zog 1937 nach Hamburg-Hamm in den Saling 9. Sie vermietete Zimmer unter, so dass sie trotz des Berufsverbots und gekürzten Versicherungsleistungen von Rudolph ihr Leben gestalten konnte. Die Gestapo sorgte später dafür, dass Untermieter auszogen. Nur Juden durften zur Untermiete bei ihr wohnen oder Untermieter erklären, dass sie wissen, dass sie bei Juden wohnen. Berthie Philip  wohnte bis Anfang April 1942 im Saling 9, dann wurde sie aufgefordert, binnen 48 Stunden die Wohnung zu räumen. Sie wurde in das so genannte Judenhaus in der Bundesstraße 43 eingewiesen. 

Bei der Bundesstraße 43 handelte es sich um Stift-Wohnungen. John R. Warburg hatte ab 1890 insgesamt 52 Freiwohnungen erbauen lassen, die für jüdischen und nicht-jüdische Bewohner/innen geschaffen worden waren. Ab 1939 wurde den jüdischen Menschen das Wohnrecht genommen. Sie konnten jederzeit aus ihren Wohnungen vertrieben werden. Die Stifte wurden als „Judenhäuser“ umfunktioniert, beengt wurden die Menschen dort untergebracht. In der Bundesstraße lebten in den 52 Wohnungen von 1939 bis zu den Deportationen 1942 über 250 Personen. Am 14. Juli 1942 wurden die Bewohner:innen von der Gestapo abgeholt und mussten in der Schule Schanzenstraße übernachten. Am 15. Juli wurden 900 jüdische Menschen nach Theresienstadt/Terezin deportiert. 

Von den 150 Bewohner:inen, die im Juli 1942 deportiert wurden, überlebten fünf. Berthie Philipp wurde im April 1945 von der Roten Armee befreit. Im November 1945 kam sie wieder nach Hamburg. 1946 schrieb sie einen Roman, “Die Todgeborenen”, in dem sie ihre Erlebnisse der Deportation und des schweren Lebens in Theresienstadt aufschrieb. Kurz vor ihrem Tod verwendete sie den größten Teil ihres Vermögens zur Gründung der “Rudolph und Berthie Philipp-Stiftung”, die verarmte, ältere Künstler unterstützten und Wohnungen zur Verfügung stehen sollten. Bis heute erfüllt die Stiftung ihren Zweck.

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