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Holger Artus

Deportation über die Kielortallee

Dieser Text schließt an zwei Veröffentlichungen über Betty Worms an. Die Texte wurden in Form von Nachbarschafts-Infos in die heutigen Briefkästen verteilt, wo sie einst wohnte. Dazu kam eine Veröffentlichung auf dem Blog zur Bundesstraße 43. Ob man jemand damit erreicht?

Ich glaube nicht, dass jemand aus den Häusern, wo Betty Worms gelebt hat, kommt. Die Zugangsbarrieren sind zu groß und von den heutigen Mieter:innen wird es keinen Bezug zur Erinnerungsarbeit geben, so dass man jemand erreichen könnte. Aber es ist eben mehr als nur ein Text für eine Web-Seiten, sondern er wurde eben auch verteilt. In der Summe der einzelnen Texte liegt die Auflage zur Erinnerung an den 80. Jahrestags bei 2.000 Exemplare. Manch einer wird ihn zu Ende gelesen haben. Da die Häuser per Klingelknopf geöffnet werden musste, hatte ich in der Summe gut 50 Gespräche geführt und ein Gefühl bekommen, ob uns was interessiert. Dazu kommt, dass ich bezüglich der Kielortallee im Frühjahr 1943 noch einmal einige Briefkästen mit einem neuen Erinnerungsthema füllen werde.

Am 15. und 19. Juli 1942 fanden die letzten großen Massendeportationen aus Hamburg von 1.700 jüdischen Menschen nach Theresienstadt/Terezin statt. Die Menschen mussten sich in der Sammel- stelle in der Schule Schanzenstraße am Bahnhof Sternschanze einfinden. Bereits am 11. Juli 1942 gab es eine Deportation aus Hamburg in das Vernichtungslager Auschwitz. Die Betroffenen kamen vor allem aus den „Judenhäusern“ aus den umliegenden Stadtteilen. Untern ihnen befanden sich auch über hundert jüdische Bewohnerinnen und Bewohner aus der Kielortallee: 63 Personen aus der Kielortallee 22, aus der Kielortallee 24 waren es 36 Personen und weitere aus der KIelortallee 13.

Betty Worms

Betty Worms, geborene Gumpel, bezog am 24. September 1935 eine neue Wohnung der “Vaterstädtischen Stiftung”, dem Theodor-Wohlwill- Stift in der Kielortallee 26. Vorher hatte sie seit 1912 in der Hein- Hoyer-Straße 62 gelebt. Sie war am 21. Oktober 1871 in Hamburg geboren, ältere Schwester von Siegfried, und war mit Carl Worms verheiratet. Sie war immer wieder berufstätig und hatte noch bis 1932 als Kellnerin in einem Café gearbeitet. Ab 1935 war sie vollständig auf die öffentliche Fürsorge angewiesen. Auch sie erlebte die Vertreibungs- strategien des NS-Regimes. So wurde sie in einem Alter von 67 Jahren gezwungen, 1938/1939 so genannte Pflichtarbeit in der Rosenallee 11 zu leisten, ohne dass sie dafür entlohnt wurde. Mit anderen Menschen wurden sie in “Juden- kolonnen” zusammengefasst und als Zwangsarbeiterin eingesetzt. Am 9. Februar 1939 zog sie in den Warburg-Stift in der Bundesstraße 43.  Aus den Meldekarteien ergibt sich aktuell, dass auch Rosa Stern, eine Schwester von Betty Worms und Siegfried Liebreich, für einige Zeit in der Kielortallee 22, im 1. Stock, gelebt hatte. Vermutlich hatte sie Anfang 1941 ein Zimmer im Oppenheim-Stift bezogen. Während Siegfried Liebreich von der Kielortallee 24 über die Sammelstelle Schule Sternschanze verschleppt wurde, erfolgte die Deportation von Rosa und Betty am gleichen Tag über das „Judenhaus“ in der Bundesstraße 43.  Betty starb am 1. Dezember 1942 in Theresienstadt/Terezin, drei Wochen nach dem Tod ihres Bruders. Rosa verstarb 72-jährig am 9. Januar 1943 angeblich an Herzmuskelentartung, Herzschwäche und allgemeinem Kräfteverfall.

Siegfried Liebreich

Siegfried Liebreich, geborener Gumpel – Mutter Julie Gumpel, Vater Abraham Gottschalk – wohnte seit 1912 in der Wilhelminenstraße 24 (heute Hein-Hoyer-Straße) auf St. Pauli und arbeitete in der Weimarer Republik als Fotograf. Bis Ende der 1930er Jahre bestand die Absicht der Nazis darin, jüdische Menschen aus Deutschland zu vertreiben. Dazu wurden Gesetze und Maßnahmen beschlossen, auch, um ihnen ihre Arbeit weg zu nehmen. Der Antisemitismus, die tägliche Hetze, war die Klammer. Siegfried wurde Opfer der Aktion “Arbeitsscheu Reich”, die sich gegen Arbeits- und Obdachlose richtete. Die Menschen wurden vom NS-Regime festgenommen, zehntausende in KZs überstellt, wo sie schuften mussten. Erst wurde Siegfried von 16. bis 24. Juni 1938 in einer so genannten Schutzhaft in Gefängnis Fuhlsbüttel festgehalten. Von hier wurde er bis zum 19. September 1938 ins KZ-Sachsenhaus überstellt. 1939 starb seine Frau Mathilda, 1941 Tochter Maria. Das NS-Regime zwang ihn anschließend in das “Judenhaus” in der Kielortallee 24 zu ziehen. Zuvor, im März 1942, hatte das NS-Regime verfügt, dass alle Mitglieder der Reichsvereinigung der Juden in so einem Getto wohnen mussten – mit der Absicht, die Massendeportation leichter zu organisieren. Der am 27. Februar 1872 geborene Siegfried Liebreich wurde am 15. Juli 1942 nach Theresienstadt/Terezin in der CSR deportiert und starb dort am 10. November 1942. 

Was waren „Judenhäuser“?

Das NS-Regime wollte die „Endlösung der Judenfrage“. Danach sollten die Menschen in den besetzten Ostgebieten ermordet werden, so in Auschwitz, Minsk, Treblinka und in anderen Vernichtungslagern. Der Abtransport wurde durch die vorherige Zwangseinweisung in Häuser zentralisiert und durch die Polizei zu den Sammelstellen wie z.B. die Schule Schanzenstraße organisiert. Am 11. Juli 1942 fand eine Deportation direkt nach Auschwitz statt. Hierfür war die Sammelstelle die Hartungstraße 9/11 (heute Kammerspiele). Nach der Verschleppung wurden die Wohnungen versiegelt, der verbliebene Haushalt abtransportiert und durch Aktionshäuser veräußert. Auch das Haus wurde danach „arisiert“, d.h. verkauft. So auch der Oppenheim-Stift in der Kielortallee 22/24. Wir nennen das heute Raubkauf. Zwischen Isebek und Schlump waren in den 1910er und 1920er Jahren mehrere jüdische und Stiftsgebäude entstanden, wie der Oppenheimer’s Stift in der Kielortallee 22 und 24, das S.S. Rosenthal Altenhaus in der Kielortallee 23, das Max und Mathilda Bauer Stift in der Kielortallee 25 und das Theodor-Wohlwill- Stift in der Kielortallee 26.

Sie gehörten fast alle zur Vaterstädtischen Stiftung, deren „Arisierung“ anders als bei den übrigen Judenhäusern organisiert wurde. Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie womöglich noch bessere Informationen dazu haben. 

Kundgebung am 14. Juli 2022, Bundesstraße 43

Am Donnerstag, den 14. Juli 2022, findet aus Anlass des 80. Jahrestag der Juli-Deportationen jüdischer Menschen wie Rosa Stern und Betty Worms um 17 Uhr eine Kundgebung vor der Bundesstraße 43 statt. Im Anschluss soll eine Erinnerungstafel an den ehemaligen John R. Warburg-Stift, dem späteren „Judenhaus“ angebracht werden. Vielleicht haben Sie Interesse? Mehr über diese Kundgebung und die deportierten jüdischen Menschen erfahren Sie auch auf der Web-Seite https://bundesstrasse43.wordpress.com

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