Ansichten

Holger Artus

Der 8. Mai 1945 und der 8. Mai 2022

Bertolt Brecht schrieb im schwedischen Exil 1939 seine „Svendborger Gedichte“. Dazu gehörte auch das „An die Schwankenden“. In ihm setzte er sich mit den katastrophalen Umbruchs in Deutschland und der Frage auseinander, was man tun kann oder sollte.

„Unsere Parolen sind in Unordnung. Einen Teil unserer Wörter

Hat der Feind verdreht bis zur Unkenntlichkeit.

Was ist jetzt falsch von dem, was wir gesagt haben

Einiges oder alles?“

Heute ist der 8. Mai 2022, der 77. Jahrestag der Befreiung, der mich auf der Straße sehen wird. Seit langem wird in Hamburg gefordert, dass der 8. Mai ein Feiertag werden soll. Dazu finden die Aktivitäten statt. Gesellschaftlich ist dieser Tag in der öffentlichen Darstellung immer weniger ein Tag der Kapitulation geblieben.

Bereits am 3. Mai 2022 fand vor dem Mahnmal an die sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in der damaligen Sternwoll-Spinnerei eine Kundgebung statt, an der sich 80 Personen beteiligten. Auch die drei Redner:innen, Stephanie von Berg, Bezirksamtsleiterin Hamburg-Altona, Frederic Joureau, französischer Generalkonsul in Hamburg und Margot Löhr, Buchautorin, bezeichneten den 3. Mai als Tag der Befreiung. In den Reden spielte der Krieg in der Ukraine und der Überfall Rußlands eine Rolle. Im Aufruf zur Kundgebung hatten wir uns auf das “Erinnern” als das gemeinsame fokussiert. Beim Bezug zum Krieg in der Ukraine hatten wir uns auf den Satz verständigt: “Welch eine Tragik der Geschichte, dass die russische Regierung heute Krieg gegen die Ukraine führt, wo die Wehrmacht und die SS verbrannte Erde hinterließen und Frauen nach Deutschland verschleppt worden waren.“ Zu den Erzählungen auf der Kundgebung gehörte auch das Leid der sowjetischen Menschen, die als Zwangsarbeitende nach Deutschland verschleppt, aber unter dem stalinistischen System nach 1945 als Verräter angesehen und aus ihrer Heimat vertrieben wurden waren. Auch wenn es nichts mit den Zwangsarbeitenden der NS-Zeit zu tun hatte, so spiegelt es die Interpretation auch die aktuelle Lage nach dem Krieg Rußlands gegen die Ukraine wieder. Es war keine Diskussionsveranstaltung, es waren Reden anlässlich des Tages der Befreiung am 3. Mai 1945, der für alle im Lager in der damaligen Brahmstraße 75 auch deren Tag ihrer Befreiung war. Sie kamen vor allem aus der Sowjetunion, aber auch aus Frankreich und Italien. Bereits 2013, als das Mahnmal der Öffentlichkeit mit einer Kundgebung übergeben wurde, war das für uns der Tag der Befreiung diese Menschen, das Ende des Krieges und die Niederlage der Nazis. Die Teilnahme des französischen Generalkonsul war bewusst gewählt, um auch diese Opfergruppe zu erinnern, wie wir es vergangenen zusammen mit den Vertretern der ANEI aus Italien gemacht hatten.

Am 9. Mai 2022 wird in Moskau u.a. russischen Städten an den „Tag des Sieges“, erinnert. Es dürften adie Bilder der Parade der Roten Armee zu sehen sein, die die militärische Niederlage der deutschen Wehrmacht symbolisch mit dem niederwerfen der deutschen Wehrmachtsbanner zum Ausdruck brachten (war am 24. Juni 1945). Gleichzeitig dürfte der Überfall Russland auf die Ukraine 2022 in der historischen Linie des 9. Mai 1945 dargestellt werden, als Mission der„Befreiung“. Seit Tagen muss ich an diese vollständige Verdrehung der Geschichte der Befreiung Europas vom Faschismus denken. Die Erzählung, dass man die Ukraine von den Nazis (und drogensüchtigen Regierung) befreien will, ist ein Teil der Lügen-Propaganda der russischen Führung. Bereits zum 1. Mai 2022 hatten sich irgendwelche „Gewerkschaften“ in Moskau für die ARD in Szene gesetzt, um sich mit der russischen Aggression in der Ukraine gemein zu machen. Auf wenn die Szene gespenstisch war – wer hier demonstrierte, war völlig unklar. Und dennoch kommt man nicht umhin, dass an zwei bedeutenden Tage der politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung in Russland deren historische und aktuellen Bedeutung völlig verdreht und in den Dreck getreten wurde/wird.

Heute, durch den Überfall Russlands auf die Ukraine und dem Krieg in diesem Land, gibt es eine neue Debatte um die historische Bedeutung des 8. Mai 1945. Dabei wird es zum einen um die Deutungshoheit der heutigen Maßnahmen der westlichen Staaten gehen Russland und ihrer umfassenden Kurskorrektur in der internationalen Politik gehen. Die Sanktionen gegen Russland, aber auch die Auseinandersetzung um die Schaffung eines neuen Währungssystems gegen eine neue Weltwirtschaftsordnung, werden heute von der westlichen Politik massiv getrieben. Es geht längst nicht mehr um den Krieg in der Ukraine und der russischen Besetzung. Zur Deutungshoheit wird aber auch der Versuch der russischen Regierung gehören, den heutigen Überfall auf die Ukraine in eine historische Linie mit dem weltbedeutenden Beitrag der Roten Armee im Mai 1945 zu stellen.

Das es bei uns politische Akteure:innen gibt, die das genauso transportieren, lässt mich erschauern. Sie spielen mit ihrer Verschwörungsinszenierung des Aggressors „NATO“, ihrer Verbreitung von Desinformation und Falschmeldung zwar keine Rolle, aber es schmerzt trotzdem. Wie tief können Menschen fallen, mit denen einen in Bewegungen einst gemeinsame Ziele verband? Sie haben längst die Ideale und den Boden einer wissenschaftlichen Weltanschauung und politischen Praxis verlassen. Ihnen ist leider nur noch das Dumpfe und die Beschimpfung geblieben.

Die Lehren des 8. Mai, wie sie sich auch in den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam niederschlugen, waren, die Wurzeln des deutschen Faschismus zu zerstören. Es sollte eine neue Friedensordnung geschaffen werden, zu dem ein entmilitarisiertes Deutschland gehörte. Die Finanziers der Nazis, die deutschen Großunternehmen, sollten zur Rechenschaft gezogen und ihrer Macht beraubt werden. Doch schnell zeigte sich, dass die gegenseitigen Interessen der Staaten der Anti-Hitler-Koalition bis auf die militärische Zerschlagung des deutschen Faschismus nicht lange trugen. Die neue weltweite Systemauseinandersetzung bestimmte die Politik. Diese Auseinandersetzung zwischen den beiden Blöcken bestimmte bis zum Zusammenbruch der sozialistischen Staatengemeinschaft in den 1980er und 1990er Jahre die internationale Politik. Heute, mit dem Überfall Russlands, geht es wieder um eine neue historische Lage.

So wenig es unmittelbar am 8. Mai 1945 ersichtlich war, was sich im Laufe der Monate und Jahre/-Jahrzehnte für eine konkrete Politik herausbilden würde, der 8. Mai 1945 war ein Wendepunkt im Bruch mit dem alten, den Lehren aus der Niederlage des deutschen Faschismus. Er mündete aber m.E. auch in den Verträgen von Helsinki 1975, der Verankerung einer Politik der friedlichen Koexistenz zwischen konkurrierenden Staaten und den START-Verträgen zur atomaren Abrüstung Ende der 1980er Jahre.

In seinem Gedicht stellte Bertolt Brecht uns viele Fragen:

Auf wen rechnen wir noch? Sind wir Übriggebliebene,

herausgeschleudert

Aus dem lebendigen Fluß? Werden wir zurückbleiben

Keinen mehr verstehend und von keinem verstanden?

Als Zivilgesellschaft bestimmen wir nicht die Politik, wir vertreten unsere Meinungen und versuchen, um sie herum Bewegungen neu zu formieren oder laufen in bestehenden mit, suchen aber auch neue Ansätze, um nicht unterzugehen in dieser Zeit. Der heutige Diskurs um den 8. Mai wird zum einen durch die historische Situation bestimmt, aber vor allem um die Absichten und Ziele der westlichen Staaten, ihre Vorstellungen in der Weltpolitik durchzusetzen. Heute fällt es schwer, sich vorzustellen, dass es wieder einen Weg der Abrüstung und der Zerstörung der Atomwaffen geben sollte, dass es eine Richtung in der Weltwirtschaftspolitik unter den Bedingungen einer friedlichen Koexistenz, die Globalisierung und friedlichen Handelsbeziehungen gibt, der den Völkern zu gute kommt. 

Zu meinen Bild der Verortung, auf was man Einfluss nehmen kann – und wann – gehört immer auch, dass man praktisch etwas heute tun muss. Dazu gehört auch der Diskurs um die Lageeinschätzung und sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen. Auch der Standpunkt gehört dazu, dass die Staaten der NATO und EU der Entwicklung einen Kurs aufgeben wollen, durch militärischer Bedrohung und des Waffeneinsatzes der Welt ihre Vorstellungen aufzuzwingen. Man konstatieren, dass sich die Kräfte für Abrüstung, des Friedens und der Völkerverständigung eine neue Lage seit dem 24. Februar 2022 vorfinden. Seit langem sind wir nicht mehr so isoliert von Partner:innen einer Friedenspolitik. Unsere Argumente haben es nicht nur schwer, wir erfahren offenen auf den Straßen Gegenbewegungen. Der Kurs der Grünen, weg von der Friedenspartei ist auch so eine grundlegend neue Rahmenbedingung.

In den Debatten um die 8. Mai 2022-Vorbereitung in Hamburg war mein Appell: Lass uns klären, wie wir mehr Breite um die Forderungen und Bewegung hergestellt bekommen, dass er in Hamburg ein Feiertag wird. Man kann sich um Fragen der Lehren des 8. Mai heute streiten, heutige Sichtweisen auf das historische Datum vertreten, aber wenn es ums suchen oder ausloten geht, steht für mich an erster Stelle, die politischen Gemeinsamkeiten zu suchen und in die Bewegung zu integrieren. Es ist keine Tarifauseinandersetzung, in der es um eine doch eher Kräfteauseinandersetzung geht, wo die Gegnerschaft sehr einfach zu bestimmen ist. Was ich an Lohnerhöhung durchsetzte, schmälert den Profit des Unternehmens. Ich habe höchsten die Auseinandersetzung in den Belegschaften, sie für einen Streik zu gewinnen. Die Friedensfrage ist keine Fragen der Verteilungsauseinandersetzung, sondern eine politische, um große Menschenmasse zu gewinnen, die in vielfältigsten Weise diese dann vertreten und einfordern.

Die Spaltung der Arbeiterbewegung bestand vor dem Faschismus, man denke nur an die „Sozialfaschismus“ These. Für einige Monate nach der Befreiung am 8. Mai 1945 sah es so aus, dass weniger das trennende die Politik der Arbeiterparteien bestimmte. Die Einbindung der Bundesrepublik in den „Kalten Krieg“, die Restauration der alten Eigentumsverhältnisse u.a.m. führte schnell wieder zu ihrer Spaltung. Diese politische Last, Spaltung der Arbeiterbewegung, spielt heute eine andere Rolle, weil es die klassische kommunistische Bewegung in Deutschland nicht mehr gibt. Wenn man überhaupt davon sprechen kann, ist sie marginalisiert und bis zur Unkenntlichkeit eher eine kleinbürgerliche Strömung geworden, auf dem Weg zur „Verschwörungsgemeinschaft“. Aber es stellt sich uns die Frage, wie wir um Gemeinsamkeiten mit der Sozialdemokratie den Grünen und den Gewerkschaften ringen, am Beispiel des 8. Mai 1945.

Der 24. Februar 2022 ist ein Wendepunkt auch in den politischen Rahmenbedingungen für linke Politik. Der 8. Mai 1945 bleibt ein historischer Tag, der der Befreiung und wird es bleiben. Wichtig wird für uns, dass wir aus unser Isolierung herauskommen. Es geht um Menschheitsfragen, da trennt uns nicht die Meinung oder Anschauung, sondern die Verantwortung, die Welt nicht den Kriegstreibern zu überlassen. Wie sagt es Brecht am Ende seines Gedichtes (dem noch viele über viele Jahre folgten) mit seiner Aufforderung:

Erwarte keine andere Antwort als die deine!“

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