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Holger Artus

Einladung an Nachbarn zur Erinnerung an die Deportation über die Bundesstraße 43 im Juli 1942

Am 15. Juli 1942 wurden über 100 jüdische Menschen aus der Bundesstraße 43 über die Schule Schanzenstraße nach Theresienstadt deportiert. Der Versuch soll unternommen werden, mit der Nachbarschaft und Beschäftigten an den 80. Jahrestag in 2022 zu erinnern. Per Papier und Mail wurde dazu eingeladen.

Gerne möchte ich Sie auf ein Thema aufmerksam machen, das im Zusammenhang mit der NS-Zeit bei Ihnen in Ihrer unmittelbaren Nachbarschaft steht. Es geht um die Bundesstraße 43. Vielleicht schauen Sie regelmäßig auf den Altbau? Heute ist hier der Sitz des ZBH – Zentrum für Bioinformatik – der Universität Hamburg. Vor 80 Jahren, 1942, sah das völlig anders aus. Darüber möchte ich Sie in Szene setzen, am Ende verbunden mit einem Anliegen.

Auf dem von John R. Warburg erworbene Grundstück Bundesstraße/Ecke Papendamm ließ er ab 1887 ein Wohnstift, ein dreiflügeliges Gebäude mit 52 Ein- und Zweizimmer- wohnungen, erbauen. „Zweck der Stiftung ist,” so hieß es in der Satzung, “würdigen in gedrückten Verhältnissen lebenden Angehörigen des Hamburgischen Staates ohne Unterschied der Konfession angemessene Wohnungen zu gewähren. Die Miethe ist für Familien auf 50 Pfennig pro Woche, für Alleinstehende auf 30 Pfennig festgelegt.”

In der NS-Zeit wurde der Stift von den Nazis zu einem so genannten Judenhaus umfunktioniert. D.h. jüdische Menschen wurden aus ihren Wohnungen und Häusern vertrieben und gezwungen, hier zu leben. Das Reichsgesetz über die »Mietverhältnisse mit Juden« vom 30. April 1939 hob den Mieterschutz und die freie Wohnungswahl für Juden auf.  Damit wurde auch eine Voraussetzung geschaffen, die jüdische Bevölkerung in bestimmten Stadtteilen ghettoisieren zu können. Aufgrund gesetzlicher Anordnungen und Erlasse mussten spätestens bis April 1942 fast alle jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt in diese Häuser einziehen. 

Die Menschen besaßen beim Einzug in diese Wohnungen nur noch einen Rest ihres privaten Besitzes und mussten fortan sehr beengt hausen, was eine zusätzliche Belastung zu allen übrigen Schikanen darstellte. Nach dem ihre Verdrängung und Beraubung im Wirtschafts- und Berufsleben abgeschlossen war, war der Wohnraum zum Ziel der staatlichen Raubzugspolitik gegenüber den Juden geworden.

Am 15. und 19. Juli 1942 wurde über 100 Bewohner/innen des Stifts über die Schule Schanzenstraße am heutigen S-Bahnhof Sternschanze nach Theresienstadt deportiert. Nur wenige von ihnen überlebten. Eine von ihnen, Berthie Philipp, schrieb über den 15. Juli 1942 später: “Auf dem freien Platz inmitten des Gartens des Warburg-Stiftes in Hamburg hielt an einem Frühmorgen ein Lastkraftwagen mit Anhänger vor dem Eingang des Hauses. Mit streng zusammengepressten Lippen und harten Zügen waren mehrere Leute damit beschäftigt, Männer und Frauen auf den Anhänger zu heben. Viele Neugierige, die eben des Weges kamen, blieben stehen und umgaben bald in einem großen Kreis das Tor des Gartens, immer wieder versuchten sie es zu öffnen … wurden aber von zwei dort Posten stehenden Schupobeamten zurückgestoßen. … Die Schupos machten jetzt dem Meinungsaustausch ein Ende. Sie schoben die Zuschauer aus dem Garten hinaus auf die Straße. Das Tor wurde weit geöffnet und der vollbepackte Lastkraftwagen setzte sich in Bewegung. Schon war wieder ein neuer leerer Lastkraftwagen herangerückt und hielt auf dem Platz vor dem Eingang. Aus der Haustür kamen weitere zum Abtransport gerüstete Insassen des Stiftes. Sie schritten mit gesenkten Köpfen wie zum Schafott Verurteilte daher und ließen sich wie Automaten auf den Wagen heben.“

Vor dem Gebäude der Bundesstraße 43, auf Höhe der rechten Einfahrt, sind zwei Stolpersteine. Sie erinnern an Ellen Meyer und Lilly Lindenborn. Ellen Meyer, geboren 1935, wurde mit ihrer Mutter am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und am 12. Oktober 1944 in Auschwitz ermordet. Auch Lilly Lindenborn, geboren 1928, wurde am 19. Juli 1942 über die Schule Schanzenstraße ebenfalls über die Schule nach Theresienstadt verschleppt. 1945 wurde sie für tot erklärt. Beide waren Schülerinnen der Israelitischen Töchterschule in der Karolinenstraße 35. An sie und ihre Mitschüler/innen haben wir am 9. November 2021 auf einer Kundgebung vor dem Sternschanzen-Bahnhof erinnert. Mehr erfahren Sie auf der Web-Seite  www.sternschanze1942.de

Mit einigen Nachbarn aus Ihrer Umgebung ist die Idee entstanden, dass wir eine Erinnerungstafel an dem Außengebäude der Bundesstraße 43 anbringen möchten. Hierüber sind wir mit der Wissenschaftsbehörde, der Universitäts- und Institutsleitung u.a. im Austausch. Wir sind uns dabei bewusst, dass es noch weitere „Judenhäuser“ in unmittelbarer Nähe wie in der Bundesstraße 35 gegeben hat. 

Soweit es Sie bewegt, würden wir auch gerne mit Ihnen, den unmittelbaren Nachbarn und hier Arbeitenden, ins Gespräch über unseren Vorschlag kommen. Wenn Sie Zeit und Interesse haben, freuen wir uns über Ihre Teilnahme an unserem virtuellen Treffen. Mehr unter https://bundesstrasse43.wordpress.com

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