Ansichten

Holger Artus

Die Reaktionen auf die November-Pogrome werden heftiger

Am 9. November 2021 haben sich rund 150 Menschen an unser Kundgebung zur Erinnerung an die November-Pogrome 1938 im Hamburger Schanzen- und Weidenviertel beteiligt. In den Wohngebieten leuchten Kerzen an den Stolpersteinen.

Die Verlegung der Stolperschwelle vor der Ganztagsgrundschule scheiterte, weil die DHL sie irgendwo hin geliefert hatte, nur nicht an mich. Mittlerweile ist sie aufgetaucht und es gibt einen neuen Verlegertermin. Es war mir aber sehr unangenehm, dass sie nicht zur Kundgebung verlegt werden konnte.

Morgens gab es noch ein besonderes Erlebnis, da eine Grundschulklasse zusammen mit unserem Kundgebungs-Gast, Kevin Hale aus den USA, zu Stolpersteinen ging, sie mit ihnen putze und sie ihm Löcher in den Bauch fragten.  Wir blieben auch einige Zeit vor dem Gewerbehaus mit ihm und den Schüler:innen stehen.

Am Stolperstein von Theophile und Jakob Blanari waren wir noch etwas länger über Jakob Blanari, dem Ausbilder seines Vaters, im Gespräch.

Sein Vater, Kenneth Hale, begann in der damaligen jüdischen Werkschule als Jugendlicher 1938/1939 seine Tischler-Ausbildung, bevor seine Mutter mit ihm Deutschland in Reaktion auf die November-Pogromen 1938 Deutschland im Sommer 1939 verlies. Im vergangenen Jahr hatte Kenneth noch live auf unser virtuellen Kundgebung zu den November-Pogromen gesprochen, wie er und sein Bruder am 10. November 1938 von Nazis verfolgt und verletzt wurden. Mit 99 Jahren war er dieses Jahr gestorben.

Unsere Erinnerung an die November-Pogrome bei uns im Viertel führen wir seit drei Jahren durch. Hinzu kommt noch unsere Aktivität jeweils am 15. Juli zur Erinnerung an die beiden Deportationen über die damalige Volksschule Schanzenstraße. Bei der diesjährigen Bewerbung zeigte sich zum einen, dass mehr Menschen gekommen sind, dass aber auch das Klima sich auf der Gegenreaktionsseite verändert hat. Ob nun beim verteilen der Infos auf der Straßen oder bei dem stecken in die Briefkästen. Es ist sicher nicht empirisch, aber der Corona-Zusammenhang und den so genannten Corona-Leugnern liegt für mich auf der Hand.

Während es in den vergangenen Jahren so war, dass diejenigen, die eine  ablehnende Haltung zur Erinnerung an die November-Pogrome hatten, sich nicht groß zu Wort meldeten, war es dieses Jahr anders. Im Prinzip gehen wir immer nach dem gleichen Bewerbungsmuster vor: Verteilung auf der Straße und eben Briefkästen sowie die Reinigung vom Stolpersteinen. In diesem Jahr gab es an jedem dieser Aktivitäten ein antisemitische Außerung oder missachtliche Bemerkungen. Bei der Reinigung der Stolpersteine wurde die völkerechtswidrige Besetzung in Palästina mit der NS-Zeit verglichen. Aber es waren nicht unsere Reihen, sondern AfD-Unterstützer. Ihnen geht es nicht ums Völkerecht und das Selbstbestimmungsrecht der Palästiners:innen in den besetzen Gebieten. Ihnen geht es um Hetze gegen jüdische Menschen. Während der Verteilung wurde ich angemacht, dass die Corona-Regeln mit der NS-Zeit bei den Ungeimpften zu vergleichen sei. Bei der Briefkastenverteilung meinte ein Mensch, dass die Stolpersteine unwichtig sein, andere sagten zu mir, wir sollten uns um die höheren Mieten kümmern. Auch musste ich, wenn auch sehr selten, erleben, dass Menschen mich nicht in ihr Haus lassen wollen, wenn ich meine Spruch, was ich verteile. Andere sagten mir, dass es in unser Gesellschaft keinen Antisemitismus gebe.

Ich lege das alles nicht auf die Waagschale, aber in der Häufigkeit war es dieses Jahr dennoch so, dass es mir auffiel: das Klima verändert sich. Die Ratten lassen sich häufiger sehen, so möchte ich es moralisch umschreiben. Auch der Zusammenhang zur AfD, deren sprachlichen Auftritten, sehe ich als Grund für diese Auslassungen.

Man muss das natürlich alles konkret-historisch sehen. So wie sich dieser Nazi-Geist zeigt, sind es immer mehr, die sich am geschichtlichen Bezügen aktiv erinnern. Das stimmt hoffnungsvoll.

Unsere Ansprache ist immer sehr konkret, so dass z.B. heutige Mieter:innen erfahren, wer 1941 am 25. Oktober oder 8. November aus ihrem Haus nach Lodz oder Minsk deportiert wurde. Wir haben auch dieses Jahr konkrete Geschehen am (9./)10. November 1938 aufgegriffen und in der Nachbarschaft darüber informiert.

Unsere öffentlichen Aktivitäten an Stolpersteinen gehören genauso zum nachbarschaftlichen Anspruch wie unser Aufruf keine Reduzierung auf die Vergangenheit oder ein Thema ist, sondern schon der Blick auf heute und aktuelle Bezüge aufgreift.

Unsere Plakate haben mittlerweile eine Wiedererkennungswert und sollen erzählen, was am Aktionstag passiert. 

Auf der Web-Seite haben wir im Zusammenhang mit dem Ereignis zu einzelnen jüdischen Personen recherchiert und über sie geschrieben. Alles soll gewissermaßen anfassbar sein, soll auch ein Erlebnis sein, etwas tun zu können und dabei zu sein.

Kommentare sind geschlossen.