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Holger Artus

Über die sowjetische Zwangsarbeiterinnen in der Glashüttenstraße 79 und Zwangsarbeitern im Karolinenviertel

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Am 9. September 2021 führe ich einen kleinen Rundgang durchs Karolinenviertel mit Orlanda Materassi und Silvia Pascales von der ANEI aus Italien durch. ANEI ist eine Organisation ehemaliger italienischer Militärinternierter, die nach Deutschland ab September 1943 verschleppt wurden und zur Zwangsarbeit eingesetzt wurde. Bei der Planung des Rundgangs zum ersten Ort bin ich auf so viele kleine Geschichte in einem Umfeld von vielleicht 300 Meter aus der NS-Zeit gestolpert, dass ich fast sprachlos bin. Noch 29. August 2021 bin ich über eine weitere gestolpert, zu der ich aber noch weiter recherchieren muss. Am 30. August 2021 habe ich erst einmal meine Nachbarschafts-Information in der Glashüttenstraße und der Flora Neumann-Straße verteilt. Die Nachbarschaft soll es wissen.

Auch wenn ich nicht unmittelbar im Karolinenviertel wohne, sondern in der Nähe des Sternschanzenparks, bin ich im Zusammenhang mit einem Besuchs aus Italien mit einigen Abschnitten der NS-Geschichten aus dem Karolinenviertel konfrontiert worden. Darüber möchte ich Ihnen einiges erzählen.  Am Donnerstag, den 9. September 2021 bin ich mit meinen italienischen Gästen um 16 Uhr vor der Glashüttenstraße 79, dem heutigen Unternehmenssitz von Jung von Matt, sein, um darüber zu erzählen. 

Bei meinem Besuch handelt es sich um eine Vertretung der Nationalen Vereinigung der italienischen Militärinternierten (ANEI) aus Italien. Sie sind in der zweiten Septemberwoche in Hamburg, um Orte zu besuchen, in denen Zwangsarbeiter in der NS-Zeit leben oder arbeiten mussten. Beim Rundgang werden uns Verwandte von Flora Neumann begleiten, nach der auch eine Straße im Karolinenviertel benannt wurde.

In der ehemaligen Volksschule in Schule Kampstraße 60, heute Flora Neumann Straße 3, war ein Zwangsarbeitslager für italienische Militärinternierte (IMI). Sie waren aus der Eckernförder Straße 4, der Norddeutschen Kieferklinik, heute Simon-von-Utrecht-Straße, in die Schule verlegt worden. Italienische Militärinternierte war die Bezeichnung der Nazis für italienischen Soldaten, die im September 1943 von der deutschen Wehrmacht gefangen genommen wurden. Bis dahin war Italien Verbündeter Deutschlands, aber nach dem Sturz Mussolinis hatte die neue Regierung ein Waffenstillstand mit den Alliierten vereinbart. Daraufhin wurden die italienischen Soldaten festgenommen und vor die Alternative gestellt, an der Seite der deutschen Wehrmacht oder Gefangenschaft. Die meisten wollte nicht mehr Hitlers Krieg unterstützen. 600.000 wurden nach Deutschland verschleppt und als Zwangsarbeiter eingesetzt. Da sie ehemals Verbündete waren, wurden sie als „Verräter“ in Deutschland ähnlich schlecht behandelt wie die sowjetischen Menschen, die hier als Zwangsarbeiter/innen leben mussten. 


Bei Ihnen im Karolinenviertel wurde für die italienischen Militärinternierten noch ein weiteres Zwangsarbeitslager eingerichtet. In der ehemalige Schule Laeiszstraße war Platz für 200 IMIs geschaffen worden.  Aber auch niederländische und sowjetische Zwangsarbeiter mussten im Karolinenviertel  in Lagern leben. So waren es 183 Niederländer bei der HEW in der Karolinenstraße 45 und 50 sowjetische Zwangsarbeiterinnen in den Häusern in der Glashüttenstraße 78/79,

Sie mussten nicht nur unter furchtbaren Bedingungen in den Zwangsarbeitslagern leben, sie wurden auch in Unternehmen bei Ihnen im Viertel zur Arbeit eingesetzt.

Gefunden habe ich neben den Niederländern auch 17 italienische Militärinternierte, die im Karolinenviertel arbeiten mussten, im damaligen HEW-Fernheizwerk an der Karolinenstraße 39/Lagerstraße. Heute befinden sich hier vor allem die Neubauwohnungen der HANSA-Baugenossenschaft. Ein weiteres Unternehmen, das neun IMIs einsetze, war das so genannte  „Sozialwerk des Handwerks“, dass in der damaligen Kampstraße 55 eine Kantine betrieb. 

Wir werden uns am 9. September 2021 einige Zeit auf dem Hinterhof der damaligen Volksschule Kampstraße verweilen. Dabei wird es auch um die tragische Geschichte der Regenmäntelfabrik Steinburg & Co. der Glashüttenstraße 78/79 gehen.  Das Unternehmen hatte seine Produktion in der Bellealliancestraße 58 im Weidenviertel, in unmittelbarer Nähe der U-Bahn Station Christuskirche. Dem Unternehmen gehörte die Häuser in der Glashüttenstraße 78/79. 1938 gingen die Nazis zur systematischen Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Menschen über. Sie sollten kein Eigentum mehr besitzen dürfen und wurden gezwungen, es an „Arier“ zu verkaufen. Walter Sittig und Kurt Broschek kauften sowohl das Grundstück, Sittig übernahm die Fabrik in der Bellealliancestraße 58. Nach der Recherche der Historikerin, Friederike Littmann, waren in Räumen in der Glashüttenstraße 78/79 sowjetische Zwangsarbeiterinnen untergebracht. Vor einigen Tagen habe ich deren Namen gefunden.

Unter den 50 sowjetischen Frauen waren auch Zwangsarbeiterinnen, die schwanger waren. In den Unterlagen der Ärztekammer befindet sich ein Notiz, dass die Regenmäntelfabrik bei der Gesundheitsverwaltung angerufen und sich erkundigt hätte, wann die Schwangerschaftsabbrüchen für drei sowjetische Frauen, die im 5./6. Schwangerschaftsmonat sein, endlich erfolgen soltenl. Margot Löhr schreibt in ihrem Buch, “Die vergessenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Hamburg”, dass die Abbrüche nicht erfolgt sein. Tajana Gienko, zu dem Zeitpunkt 23 Jahre, brachte am 15. Februar 1945 ein Kind zur Welt,  die 19jährige Natalja Warschewa am 5. März 1945 und die 22 jährige Maria Soschenko am 1. März 1945. Aus den Unterlagen der Frauenklinik Finkenau ergibt sich, dass bei Sophie Kurask die Schwangerschaft am 20. November 1944 unterbrochen wurde. 

Den Nachmittag wollen wir mit den Besuch in der Israelitischen Töchterschule in der Karolinenstraße 35 abschließen. Es soll an die vielen jüdischen Opfer erinnert werden wie wir etwas über die Geschichte dieser Schule hören werden. Sie wurden 1942 „arisiert“, durch die Nazi enteignet. Wir werden aber auch etwas über eine ihrer Schülerin erzählern, Flora Neumann.

Diese kleine Frau, sie war nur 1,44 groß, war 1911 geboren und ging in die Israelitischen Töchterschule. Sie war bereits in frühen Jahren politisch organisiert, ihr Mann Rudi Neumann war in der KPD und war nach der Machtübernahme länger in Haft. Beide flohen später mit ihrem Sohn nach Belgien. Nach der Besetzung Belgiens durch die Wehrmacht engagierten sie sich im antifaschistischen Widerstand, wurden aber als Jüdin und Jude nach Auschwitz deportiert. Ihren Sohn konnten sie illegal in einem Kloster unterbringen. Flora konnte auf einem Todesmarsch von Auschwitz nach Deutschland fliehen. Alle drei trafen sich später in Belgien wieder,  1951 zogen syie wieder nach Hamburg. In der Marktstraße 13 machten sie eine Wäscherei auf und waren zeit ihres Lebens politisch aktiv. Noch im hohen Alter nahm Flora z.B. an Friedensdemonstrationen teil. 2005 verstarb sie im Alter von 94 Jahren. 2010 wurde ein Teil der Grabenstraße, vorher Kampstraße und dann “Am Schlachthof”, in Erinnerung an diese jüdische Widerstandskämpferin in Flora Neumann Straße umbenannt.

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