Ansichten

Holger Artus

Hans-Joachim, nicht nur ein Klassenlehrer

Für einige Rentenpunkte habe ich meine Schulzeit ab dem 17. Lebensjahr nachweisen müssen. Das entsprechende Formular habe ich mir heute in der Schule Surenland abgeholt. Damals hieß sie noch Neusurenland und ich war nur für die abschließende 10. Klasse in der damaligen Realschule. Aber es war für mich der grundlegendste Lebensabschnitt, was vor allem mit – eigentlich nur – unserem Klassenlehrer, Hans-Joachim H. zusammen hing. Jochen ist heute über 80. Ich hatte ihn kürzlich wieder zu Hause besucht und wir haben lange geklönt.

Schule Surenland, heute Grundschule. 1973 Realschule

Mit dem heutigen betreten des Geländes kamen die Erinnerungen an die Schule, die Umstände meines Wechsels und dieses besondere Jahr mit Hans-Joachim und meinen Mitschüler/innen wieder zum Vorschein. Wir bekamen die politischen Veränderungen in der Bundesrepublik und der Welt mit, wenn es auch nicht unsere Diskussionen und unser Leben bestimmte. “Politik ist schmutzig”, war die Auffassung in meinem Elternhaus, da muss man sich raushalten. Und wenn Politik, dann war es Kurt-Georg Kissinger und später Rainer Barzel. Uns als Schüler/innen ging es völlig anders: Wir redeten über den Vietnam-Krieg der USA, über die Rassenverfolgung in den USA und die Inhaftierung von Angela Davis. Die Black Panther und Bobby Seale waren unser Thema. Die Thesen von Fanon über die Befreiungsbewegung aus Afrika spielten eine Rolle. Ich erinnere mich auch an eine Debatte aus meiner Schulzeit um die Frage, ob wir uns in den Jusos oder der DKP organisieren. Es folgte damals noch nichts.

Der Schulhof hat sich auch nach 40 Jahren nicht geändert

Willy Brandt war 1969 Bundeskanzler geworden, der Nazi Kurt Georg Kissinger (seit 1933 in der NSDAP und Anwalt) war endlich als Kanzler verschwunden. Er war für mich als Schüler der Inbegriff von schlechter Politik, was aber mit der von mir damals empfunden “Miefigkeit” von Politik oder deren Arroganz zu tun hatte. Er stand für mich für eine Erwachsenenwelt, die nur wollte, dass wir “gehorchen” wie unsere Eltern – brav sind und nicht auffallen. Tanzschule und Schlips, kurze Haare, Roy Black und Bundeswehr. 1970/1972 gab es die Ostverträge und damit die Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik. Willy Brandt hatte in Warschau seinen Kniefall. Es war die Zeit der Entspannung zwischen Ost- und West und der Beginn eines Dialog um Frieden und Abrüstung. Und es war die Zeit der CDU-Hetze gegen diese Friedenspolitik und dann das Mißtrauensvotum der CDU/CSU. Die Lehrer in der Schule waren aufgebracht, keinen Barzel, endlich mehr Demokratie umsetzen, so ihre mehrheitlich Haltung. Viele Lehrer wollten, dass die Bundestagsdebatte um das Mißtrauensvotums im Unterricht live gesehen wird. Jochen war dagegen, auch wenn er eine klare Haltung hatte. Sicher kann das gut sein, aber eher würden die Schülerinnen und Schüler das sowieso nicht ernsthaft verfolgen. Er war immer der Überzeugung, dass man eine eigene Haltung und Meinung haben muss, aber sie muss sich aus der eigenen Überzeugung ergeben, nicht als der Meinung der Lehrer/innen.

Mein eigener Weg in eine neue Schule

Die Schule Neusurenland hatte ich mir als damals 16jähriger selber ausgesucht. Die Realschule in der Charlottenburger Straße ging gar nicht mehr. Ein Schulleiter, der einem ständig blöde Sprüche vorhielt, wenn es um Haltung ging, um einen einzuschüchtern – was aber bei mir nicht funktionierte. Aber nicht verstanden, ist auch kein gutes Gefühl. Das schlimmste war aber ein Klassenlehrer, der einen disziplinierte. Zwar war ich ab der 8. Klasse Schulsprecher geworden, aber der Schulleiter und auch viele Lehrer waren einfach Scheiße. Der “Vertrauenlehrer” war sehr nett, aber ansonsten war die Schule ein Griffs ins Klo, was sich auf meine schulischen Leistungen auswirkte.

Schulsekretariat und Schulleitung – heute (2019)

Nur noch weg, war meine Erkenntnis, auch gegen die Meinung meiner Eltern. Damals hatte ich mir mehrere Schulen ausgesucht, in denen ich mich bewarb. In Neusurenland wurde ich vom Schulleiter empfangen und er hörte mir zu, warum ich wechseln wollte. Er war irritiert, dass ich mich selber darum kümmerte, bisher war ihm das nicht untergekommen. Ich hatte vorher nicht angerufen, einfach Fakten schaffen. Es funktionierte, wenn ich auch lange vor dem Zimmer des Schulleiters und des Sekretariats warten musste. Ich fühlte mich im Anschluss verstanden, auch wenn er sagte, dass er sich meldet, auch bei meinen Eltern und der Schule Charlottenburger Straße. Es gebe eine Klasse, die gerade einen Lehrerwechsel vollziehe und ich könne da reinpassen.

Der erste Schultag

Zu meinem ersten Schultag, einer Frühstunde um 7:05, wurde ich freundlichst von Camilla empfangen. Abgesehen davon, dass sie auch so war, hatte Jochen am Vortag auch geklärt, dass ich vernünftig aufgenommen werde, persönlich und nett. Alles das war Camilla. Es war irgendein Fachunterricht, ich glaube Physik, das er selber nicht unterrichtete. Es war im Winter und dunkel, aber ich hatte ab dem ersten Tag einen tollen Einstieg. Ich senkte die Schule neu. Meine schulischen Leistungen verbesserten sich in dem einen Jahr grundlegend.

Es hat sich so gut wie nichts verändert, mein Klassenraum war im 1. OG, ganz am Ende des Ganges

Bertold Brecht betrat mein Leben

Mit Jochen kam Bertold Brecht in mein Leben, plötzlich gingen ich auch aus eigenen Stücken ins Theater, so Ödon von Horvath. Ich las soviel über Brecht und war begeistert. Das Erleben der “Dreigroschenoper” im Deutschen Schauspielhaus als 16-jährige war aber der Höhepunkt in meinem Leben zu dieser Zeit. Vorher hatten wir uns die Taschenbücher besorgt und im Unterricht durchgenommen. Manchmal war es zum verzweifeln, weil er uns mit unserer Meinungsbildung bei dem Stück gewisssermaßen alleine lies. Wie ist das zu verstehen, dass man Abend wieder oben liegt? Wie ist das gemeint mit den Verhältnissen, die nun mal so sind? Er sagte uns nicht, wie wir es verstehen mussten, wir redeten darüber, er half uns beim verstehen.

Vierzig Jahre später telefonierte ich mit einer Mitschülerin, die meinte, ich sei der “Liebling” von H. gewesen – was nicht stimmt – , denn ihr vorheriger Klassenlehrer hatte für sie alles aufgelöst. Somit war der Unterricht nicht so anstrengend. Da Jochen sehr stark die jungen Frauen förderte und nicht die ständig Melder ran nahm, zu denen ich auch nicht gehörte, fühlte sie sich doppelt gefordert, eigene Antworten und einfach angesprochen. Und er förderte sie, wo er nur konnte. Meine Begeisterung für Bertold Brecht führte mich und meinen Mitschüler Thomas W. in den Malersaal, damals hinter dem Schauspielhaus. Billstedter Arbeiterkinder brachten „Die Mutter“ vom Bertold Brecht auf die Bühne. An der anschließenden Diskussion mit ihnen beteiligte ich mich. Es war ein tolles Gefühl, ich traute mich, das Wort zu ergreifen.

Turnen und Schwimmen war in den Räumlichkeiten des Gymnasium Farmsen

Warum Menschen für ihre Meinung in den 1960er Jahren in den Knast gingen

,Jochen brach inte mir nicht nur Brecht nahe, den ich danach in mich auffraß. Seine pazifistische Haltung, auf Frieden ausgerichtete Haltung war ein Segen. Aber eben nicht so, dass wir ihn folgten, er sagte nicht seine Meinung, er griff aber Dichtung und Wahrheit auf und forderte von uns, genau zu prüfen, wie die Fakten sind. Er war (und ist) keiner, der auf Demos ging. Er war ein sehr bescheidener Mensch. Durch ihn erfuhr ich, dass Menschen in den 1950er und 1960er Jahren für die Einheit Deutschlands im Knast saßen. So erzählte er z.B. aus seiner vorherigen Klasse von einem Schüler, dessen Vater als KPD-Mitglied im Knast gesessen hatte, aber als Vater nur engagiert für die Sache der Schüler/innen war. Später lerne ich den Vater kennen, es war der DKP-Vorsitzende in Hamburg, Jan Wienecke. Das nette Bild, dass Jochen von ihm erzählt hatte, ohne dessen Meinung zu teilen, entsprach der Person. Was für ein lieber Kerl.

In der Aula fand die Verabschiedungsfeier statt. Ich hatte die 10 a und b die Darbietungen mit entwickelt

Jochen empörte die Verurteilung eines engagierten Menschens für seine Meinung, die Verfolgung eines Menschen, der sich für die Anerkennung der DDR aussprach und die mit den Obstverträgen zur staatlichen Strategie geworden war. Sie war für ihn nicht der bessere deutsche Stadt oder auch nur irgendwie ein Beispiel. Er war für den Dialog der Menschen, so dass darüber die Grenzen verschwinden.

Der Schulausgang ….

1972 hatte der NDR eine Serie mit Horst Königstein gesendet, ich glaube es war ein 5-Teiler. Es ging um die manipulative Wirkung der Pop-Musik und der Vortäuschung von Illusionen. Bei diesem Thema verlor er manchmal seine geduldige Haltung. Hörten wir Wiedergaben aus dem Film, wippten unter den Tischen die Füßen. “Genau darum geht es doch, ihr macht unkritisch mit,” oder so war seine Argumentation. Wir gaben uns hin und laufen mit. Er tat es aber mit aller Geduld und manchmal Komik.

Ich war in der Klasse angekommen und fühlte mich in ihr wohl, wir waren uns alle schnell vertraut. Aber ich war auch damals gerne Einzelgänger, eben mit einer eigenen Meinung. Wir hatten einige Unterrichtsstunden zum Wahlsystem der Bundesrepublik und dessen Unterschiede zur Weimarer Republik. Aus der Diskussion ergab sich die fünf Prozent Klausel. Sie musste kommen, die Frage, wie wir es sehr mit der “5-Prozent-Klausel”? Es gab dazu ein Meinungsbild. Zwei waren dagegen, alle anderen 24 dafür. Bernd und ich waren dagegen. Wir mussten es begründen, nicht zur Rechtfertigung. Ob dafür oder dagegen, wir sollten eine Meinung haben und dazu argumentieren. Uns wurde kein von ihm Vortrag gehalten, von wegen der angeblichen Lehren aus der Weimarer Republik. Jochen lies dabei durchblicken, dass er eher für die “5-Prozent-Klausel” war, um Nazis keine Platz im Parlament zu geben. Immerhin hatte die NPD Ende der 1960er Jahren einen großen Aufschwung

Mein erstes Flugblatt

Mein erstes Flugblatt habe ich in der zehnte Klasse geschrieben. Zu Weihnachten gab es immer Geldsammel-Aktionen für die Kriegsgebiet-Fürsorge o.ä. Wir wollten nicht sammeln, obwohl es die Anfrage an die Schule gab und somit auch an unsere 10b. Wir argumentierten mit dem Vietnam-Krieg. Als Jochen von der Debatte erfuhr, macht er das Thema im Unterricht auf. Es sei ihm zu billig, sich mit dem Verweis auf den Vietnam-Krieg, den er ablehnte, uns dem praktischen Tuns zu entziehen. Wenn wir gegen den Vietnam-Krieg sind, dann müssen wir uns im Zusammenhang mit dem Anliegen verhalten. Nicht einfach nee sagen und dann weiter machen, als wenn es die Anfrage nicht gegeben hätte. Im Ergebnis sagte wir, ohne das Jochen sich an der Diskussion mit seiner Meinung zu beteiligen. Wir entschieden zu sammeln und dabei ein Flugblatt zu verteilen. Das haben wir dann zusammen erarbeitet – bei mir zu Hause und mit eignen Mittel gedruckt. Am Ende scheiterte die Aktion, weil wir keine Spendendosen erhielten.

Die Tage in einer neuen Schule mit schnellen Konsequenzen

Was wir mit unserem Realschulabschuss machen, war ein frühes Thema, nicht erst mit der Abschiedsfeier. Ausbildungsberuf oder weitergehende Schulung, Wirtschaftsgymnasium oder Fachoberschule?Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre wuchs die Jugendarbeitslosigkeit und wir machten uns Sorgen, ob es überhaupt eine Zukunft nach der Schule gibt. Was hieß eigentlich Zukunft? Arbeiten und in die gleichen Fußstapfen der eigenen Eltern treten, so dass sich alles reproduzierte, dass was wir nicht mehr wollten? Meine Entscheidung war irgendwann in Richtung Sozialpädagogik gefallen. Ich wollte praktisch “gutes” tun für Menschen. Bereits während des einen Jahres in der Schule Neusurenland wollten wir eine Hobby-Raum als eine Art “Haus der Jugend” und “Schülerhilfe”. Das Projekt scheiterte, es war einfach unreif.

Schule Uferstraße 2019

Auf in den MSB Spartakus

Einige Tage in der Fachoberschule Uferstraße, die den Zusatz für Sozialpädagogik führte, traf ich die Entscheidung und organisierte mich im MSB Spartakus.

Eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Es war der Weg in eine selbstbestimmte Zukunft, eine die die kapitalistische Gesellschaft überwinden will. Jahre später und auch Jahrzehnte später sprachen Jocen und ich darüber, da ich auch schnell in die DKP eingetreten war. Er fand es zu extremistisch, aber gewissermaßen auch konsequent von mir.

Info-Stand vor der FOS Uferstraße

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