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Holger Artus

Stolpersteine – Erinnerung und Mahnung

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Am 23. September 2018, wie auch zu anderen Tagen im Jahr, wurde in Hamburg zur Reinigung der Stolpersteine aufgerufen. Sie erinnern an die Opfer der Nazis. Nicht irgendwo, sondern direkt in der Nachbarschaft, in der Regel an der letzten Wohnadresse der verfolgten Personen.

Seit 1995 erinnert der Kölner Künstler Gunter Demnig mit seinem Projekt STOLPERSTEINE durch kleine Gedenksteine an Opfer der Nazi-Diktatur vor deren früheren Wohnorten. Stolpersteine sind Betonwürfel im Format 10 x 10 x 10 cm, die auf ihrer Oberseite mit einer Messingplatte versehen sind, auf der die Lebensdaten eines Opfers eingraviert werden. Es handelt sich um das größte dezentrale Denkmal in Europas.

In Hamburg gibt es an die 5.500 dieser kleinen Steine. Die Hamburger Morgenpost schrieb in ihrer Ausgabe vom 23. September 2018: „Sie heißen „Stolpersteine“, weil der Passant auf dem Weg zum Büro, beim Shoppen oder Flanieren über sie stolpern und für einen Moment innehalten und sich erinnern soll an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte.“

Es gibt verschiedene Formen der Erinnerung. Es gibt Patinnen und Paten in den Häusern, die sich um die Steine kümmern. Es gibt den öffentlichen Aufruf und das stille beteiligen.

Ich entschied mich für einen anderen Weg: Ich kündigte meine Aktivität öffentlich an und verteilte ein Nachbarschafs-Info in den Häusern, vor denen es einen Stolperstein gibt. Neben der Ankündigung schrieb ich jeweils die Biographie der auf dem Stolperstein genannten Personen auf. Zu 40 Personen habe ich deren im Ergebnis sehr traurige Geschichte aufgeschrieben und dabei mir selber den Terror der Nazis vor Augen führen können. In rund 50 Häusern habe ich 1.000 Flugblätter verteilt. Ebensoviele Gespräche habe ich auch in etwa geführt, weil die Briefkästen hinter den verschlossenen Haustüren auch erreicht werden sollten. Die Reaktionen haben mich sehr ergriffen. Neben den Gesprächen an den Wohnungstüren schrieben die Leute auf mein Facebook Profil oder riefen mich an, um zu sagen, wie gut sie das finden und dass durch die kurze Biographie die ermordeten Personen gewissermaßen ein Gesicht bekommen haben.

Besonders betroffen hat mich die Biographie von Dr. Paul Bonheim gemacht. Er war Oberarzt im Elisabeth Krankenhaus im Kleinen Schäferkamp. Auf seiner Flucht in die USA fuhr er in die Niederlande und hatte eine Überfahrt gekauft. Eine Einreisesperre in den USA verhinderte seine Flucht. Der Einmarsch der Nazis in die Niederlande trieb ihn dann in den Tod.

Aber auch der Hamburger Kommunist Hans Hornburger stimmte mich traurig wie hoffnungsvoll. Er hat Arbeiter von Blohm&Voss Werft im Hamburger Hafen organisiert und sie in kleinen illegalen Zellen zusammengeführt. An die 70 Arbeiter schlossen sich so zusammen. Sie sabotierten die Kriegsproduktion wie sie auch Lohnauseinandersetzungen in der Nazi-Gewerkschaft anzettelten oder auch Lebensmittel für die Zwangsarbeiter auf der Werft organisierten.

Am Tag der Reinigung vor den 11 Häusern kamen Mieter*innen vor die Tür und beteiligten sich an der Aktion. Sie legten Blumen nieder, kamen mit ihren Kindern vor die Tür, um über die Steine und dem warum zu sprechen oder halfen mit bei der Reinigung.

Die Recherche um die Personen auf den Stolpersteinen bei uns im Viertel führte dazu, dass ich über weitere Namen von Mietern oder zwangseingewiesenen Jüdinnen und Juden in den sogenannten Judenhäusern stolperte. Plötzlich bekam das Thema der Judendeportation bei uns im Viertel ein neues Gesicht. Aus sechs Personen, an deren Namen vor einem Haus erinnert wurde, wurde 77, die dort im Laufe der Zeit wohnten und von dort in die Vernichtungslager der Nazis transportiert wurden. Ihre Namen und letzte Wohnadresse waren akribisch u.a. von der Hamburger Polizei damals in den Deportationslisten aufgeschrieben worden.

Es war aber nicht nur eine reine Erinnerungsaktion. Der rechte Mob, der sich in Chemnitz Anfang September formiert hatte, sollte auch eine nachbarschaftliche Gegenantwort bekommen. Eben auch als Nachbarn sich darüber austauschen. Das Leid der ermordeten Menschen, ihre Flucht in den Tod, die tragische Wege suchen auch heute noch eine Antwort, dazu spricht man im Wohnviertel weiter und sucht nach weiteren öffentlichen Formen in der Nachbarschaft.“

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