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Holger Artus

Moritz, Martha, Annemarie und Heinz Oettinger, Budapester Straße 38

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Zum zweiten Mal habe ich eine Information über Nachbarn aus der NS-Zeit in der Budapester Straße 38, damals noch Eimsbüttelerstraße 38/39, verteilt. Hier geht es um jüdische Mieter:innen, die von den NS-System verfolgt wurden.

Sie sich, dass ich mit einer Info über die Zwangsarbeiter in der Budapester Straße 38 während der NS-Zeit in Ihrem Briefkästen gelandet war? Eine aktuelle Mail aus Israel hat mich jetzt darauf aufmerksam gemacht, dass in der damaligen Eimsbüttelerstraße 38 mehrere jüdische Familien lebten bzw. ihr Geschäft hatten, wie die Familie Oettinger und Nussbaum. Über sie möchte ich Ihnen etwas erzählen. Sie wurden stigmatisiert, verfolgt, in den Ruin getrieben, in KZs und Gettos deportiert, ihr gesamtes Vermögen geraubt und Angehörige von ihnen ermordet.

Über die Familie Nussmbaum (Erdgeschoss) 

Ferdinand Nussbaum hatte seinen Geschäftsbetrieb als Auktionator/Versteigerer im Erdgeschoss rechts. Die Familie wohnte seit 1907 am Neuen Pferdemarkt 32, nicht weit entfernt. Seit 1919 arbeitete seine Töchter Grete bei ihm im Unternehmen. Ab 1936 betrieb sie ein Möbel- und Haushaltswarengeschäft im Erdgeschoss. Bereits im Herbst 1937 wurde sie aus antisemitischen Gründen in ihrem Geschäft verhaftet. Bis Februar 1939 saß sie im KZ Ravensbrück. Sie floh mit ihrem Vater 1939 in die Niederlande. Nach deren Besetzung durch die deutsche Wehrmacht wurde sie mit ihrem Mann 1943 ins Getto Terezin verschleppt. Er wurde nach Auschwitz deportiert und kam dort ums Leben. Sie erlebte die Befreiung Terezin durch die Rote Armee im Mai 1945. Ferdinand Nussbaum war im Mai 1940 in Amsterdam gestorben.

Über die Familie Oettinger (Erdgeschoss und 3. Stock)

Etwas mehr möchte ich Ihnen über Annemarie Oettinger erzählen. Sie war die Tochter von Martha Frank (geb. 1880) und Dr. Moritz Oettinger (1870). Er hatte seit 1912 seine Hausarztpraxis in der Eimsbüttelerstraße 38 im Parterre (E./OE). Die Familie lebte im 3. Stock. Davor wohnte sie mit ihren beiden Kindern, Heinz (geb. 1905) und Annemarie (geb. 1909) in der Dammtorwall 7, wo er bereits seit 1896 eine Arztpraxis betrieb. Seit 1930 wohnte die (jüdische) Familie Selma und Albert Nordheim bei den Oettingers in der 7-Zimmerwohnung in der Eimsbüttelerstraße 38.

Dr. Moritz Oettinger starb am 27. August 1933 im Alter von 63 Jahren. Der Bürgerverein St. Pauli schrieb , dass „einer der Besten von ihnen gestorben“ sei. 

Martha zog mit ihren beiden Kindern, Annemarie und Heinz, in eine 4-Zimmerwohnung in der Schlankreye 21. Die Northeims zogen in “Beim Andreasbrunnen 9” in Hamburg-Eppendorf. Heinz Oettinger gründete 1934 einen eigenen Radio-Reparatur-Betrieb im Eppendorfer Weg 91, den er aber schnell wieder aufgab. Der Grund hierfür war, dass vor der Tür seines Geschäfts zwei Gestapo-Männer standen und Kunden den Zutritt zum Geschäft verboten, da es von einem Juden geführt worden sei. Heinz floh 1934 nach Palästina.

Über Annemarie Oettinger

Sie wurde am 17. Oktober 1909 in Hamburg geboren. Am 11. Februar 1929 schloss sie die Helene -Lange-Oberrealschule erfolgreich ab und studierte danach Medizin in Freiburg, Frankfurt und Hamburg. Die schriftliche Prüfung bestand sie am 21. Dezember 1934, die mündliche Prüfung erfolgte am 29. Mai 1934. Die Stadt Hamburg verweigerte ihr die Aushändigung der Approbation als Ärztin, weil sie Jüdin war. Wollte sie einen Doktortitel führen, müsse sie das Land verlassen und eine Verzichtserklärung abgeben, dass sie den Beruf nicht in Deutschland ausüben werde. Um Ihnen ein Bild zu vermitteln: Bereits im April 1933 waren alle jüdischen Ärzte aus dem staatlichen Gesundheitsdienst entlassen worden, ab 1938 durften Ärzte nur noch jüdische Patienten betreuen und mussten den Doktortitel abgeben. Die Bezeichnung „Arzt/Ärztin“ durften sie nicht mehr führen. Jüdische Menschen duften nicht mehr das staatliche Gesundheitssystem nutzen. Sie konnten noch ins Israelitische Krankenhaus.

Annemarie hatte trotz der antisemitischen Behinderungen das notwendige praktische Jahr für den Doktortitel in einem Krankenhaus abgeschlossen. Das war damals für sie nur noch im Israelitischen Krankenhaus in der Eckernförder Straße in St. Pauli (heute Simon-von- Utrecht-Straße) möglich. Im November 1935 verließ sie das Krankenhaus und floh mit Hilfe der finanziellen Mittel ihrer Mutter nach Hadera in Palästina. 1986 schrieb sie über ihre Emigration: „Ich fuhr auf dem Ärzteschiff Galilea nach Haifa. Auf dem Schiff zählten wir über 100 Ärzte, 10 davon waren aus Hamburg.“ Eine Einreise war nur möglich, wenn sie ein Minimum an finanziellen Mittel nachweisen konnte (5.000 Reichsmark). Das Leben in der neuen Heimat war sehr schwer, sie hatte keine Arbeit, trotz ihrer Qualifikation. Zeitweilig fand sie eine Beschäftigung, verdiente sie wenig und war viele Jahre arbeitslos.  1945 gründete sie eine eigene Familie und heiratete Werner Cohn, der von den NS-System verfolgt und misshandelt worden war. Das Paar hatte drei Kinder, ihr Mann litt schwer unter den Folgen des NS-Terrors und konnte nicht mehr arbeiten.

Martha Oettinger

Martha Oettinger konnte erst Ende März 1938 aus Deutschland emigrieren. Sie zog zu ihrem Sohn Heinz nach Kirjat Bialik in Palästina. Bis Ende der 1930er Jahre war es noch das Ziel der Nazis, die jüdischen Menschen aus Deutschland zu vertreiben, mit allen Mitteln. Annemarie erzählte später, dass ihre Mutter in der Schlankreye 21 immer wieder von Nazis bedroht wurde. Ihre Auswanderung erfolgte “nach der Drohung der Plünderung und Ausweisung seitens eines SS-Manns … sie sagte mir.  Dieser Mann sei noch mehrmals .. in ihrer Wohnung erschienen“. Die Menschen wurden gezwungen, ihr Eigentum zu verkaufen. Über die Erlöse konnten sie selber nicht mehr verfügen, da die Finanzbehörde die Mittel beschlagnahmt hatte. Es wurden nur die Mittel freigegeben, die „anerkannt“ wurden und bereits angefallen waren. So musste sie für ihre Ausreise z.B. eine „Judenabgabe“ begleichen, die von der Stadt Hamburg vereinnahmt wurde. Martha bezog eine Witwenrente aus dem Beruf ihres Mannes. Die Ärzte-Kammer wollte aus antisemitischen Gründen nicht mehr dafür aufkommen und die finanzielle Renten-Verpflichtung aus ihren Büchern streichen. Sie stellte die monatliche Rentenzahlung ein und  überwies ihr einen willkürlichen „Restbetrag“, über den sie nicht verfügen konnte, da das Konto gesperrt war. Martha Oettinger starb am 7. April 1947 in Palästina. Erst 1948 wurde der Staat Israel gegründet.

Martha, Annemarie und Heinz Oettinger konnten 1936/1938 aus Deutschland fliehen. Seit Ende 1939 war es den jüdischen Menschen nicht mehr möglich, trotz Ausreisegenehmigung, Deutschland zu verlassen.  Ab 1941  war es das erklärte Ziel des NS-System, statt der Vertreibung alle jüdischen Menschen zu vernichten.  In Hamburg begannen die ersten Deportationen in den Osten am 25. Oktober 1941 nach Lodz. Insgesamt folgten noch 19 Deportationen (einschließlich drei Deportationen von Roma und Sinti). 

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