Ansichten

Holger Artus

Betr: Schäferkampsallee 29

Aus Anlass des Besuchs der Familie von Ella Michel aus Argentinien in Hamburg war eine meiner Absichten, dass es zu Begegnungen mit heutigen Nachbarn an den Standorten des damaligen Standorts des Israelitischen Krankenhauses in der NS-Zeit kommen sollte. In den Häusern der Johnsallee 54 und um die Schäferkampsallee 29 habe ich zwei Nachbarschaftsinfos verteilt. Hier das Info zur Schäferkampsallee 29.

Liebe Nachbarn:innen,

dass in der Schäferkampsallee 29 vom September 1942 bis Ende 1959 das Israelitische Krankenhaus war, wird den meisten von Ihnen vermutlich nicht bewusst sein. Heute befindet sich an der Stelle ein anderes Gebäude, das von medizinischen Einrichtungen bzw. der Uni genutzt wird.

Um was geht es?

Am Donnerstag, den 11. Juli 2024 werde ich morgens um 10:00 Uhr vor dem Gebäude in der Schäferkampsallee 29 stehen, um meinem Besuch etwas über den Arbeitsort von Ella Michel (geboren am 19. September 1920) zu erzählen. Sie war hier bis zum 10. März 1943 als Krankenschwester tätig. An diesem Tag wurde sie nach Terezin/Theresienstadt, in der Nähe von Prag, deportiert und später ins KZ Auschwitz verschleppt. Ella hatte den Holocaust überlebt. 

Beim Besuch handelt es sich um ihre Tochter. Ihre Mutter war 2013 gestorben. Nie wieder ist sie in Hamburg gewesen. Die Anwesenheit ihrer Tochter hätte ihr hoffentlich gefallen.

Was soll erzählt werden?

Vor dem heutigen Gebäude soll es um die Geschichte der Schäferkampsallee 29 gehen, die Menschen, die dort gepflegt, gelebt und gearbeitet haben. Das damalige Gebäude war 1898 von der Deutsch-Isrealischen Gemeinde gekauft und wurde zu einem Pflegeheim umgebaut worden. Man sprach seinerzeit von “Siechenheim”. Der Kern: es sollte jüdischen Menschen, die dauerhaft erwerbsunfähig waren, eine freie Wohnung und Unterhalt gewähren. Dazu gehörten freie Begleitung, freie Verpflegung, freie Versorgung und freie Heilmittel. Es gab eine Verwaltung und einen Schwester. In der Schäferkampsallee 29 befand sich auch einen Synagoge. 1905 lebten hier 15 Personen im Pflegeheim. In seiner besten Zeit lebten dort 30 Menschen in der Einrichtung. 

Charakter des Pflegeheims in der Schäferkampsallee 29 ändert sich in der NS-Zeit

Mit der Übernahme der staatlichen Macht durch die Nazis in Deutschland änderte sich alles für die Jüdinnen und Juden, also auch für das damalige Pflegeheim. In der Schäferkampsallee 25/27 war ebenfalls ein jüdisches Pflegeheim. Hier wurde im Laufe der NS-Zeit eine Versorgungsküche eingerichtet, um verarmte Menschen im Umfeld zu ernähren. Am Ende wurden aus den beiden Pflegeheime 25/29 und 29 so genannte Judenhäuser. Es wurden Massenunterkünfte, da den Menschen in den alten Mietwohnungen schrittweise gekündigt und sie gezwungen wurden, in die „Judenhäuser“ zu ziehen. Seit 1941 dienten diese Stifte zur Abwicklung der Deportation aus Hamburg in den “Osten”, wo sie ermordet wurden.

Die erste Bewohnerin aus der Schäferkampsallee 29, die von hier verschleppt wurde, war Ruth Warneck. Sie war eine schwer kranke junge Frau, der die Fürsorge bereits gestrichen wurde, weil sie Jüdin war. Sie musste in die Wohnung ihrer Tante in der 29 ziehen. Am 4. Dezember 1941 wurde sie nach Minsk verschleppt. Sie musste sich dafür in einer Sammelstelle einfinden, vermutlich dem Schlachthof am Bahnhof Sternschanze. Von dort ging es zum Hannoverschen Bahnhof (heute Hafencity, hinter dem SPIEGEL-Gebäude) und dann nach Minsk. Seit Anfang 1942 waren alle Jüdinnen und Juden gezwungen, ihre Mietwohnungen zu verlassen. Sie mussten in diesen “Judenhäusern” wohnen. Am  15. und 19. Juli 1942 wurden 81 Bewohner:innen aus der Schäferkampsallee 25/27 und 29 über die Schule Schanzenstraße nach Terezin verschleppt. Insgesamt wurden 129 Menschen vom 4. Dezember 1941 bis 30. Januar 1944 von hier in den Osten aus den beiden Häusern verschleppt. Ella Michel war einige der wenigen von ihnen, die überlebte.

Aus der Schäferkampsallee 29 wird das Israelitische Krankenhaus

Im September 1942 musste das Israelitische Krankenhaus in die Schäferkampsallee 29 in das Pflegeheim einziehen. Nach den beiden Deportationen vom 15. und 19. Juli 1942 über die Schule Schanzenstraße stand das Gebäude leer. Es war für den Krankenhausbetrieb überhaupt nicht geeignet. Es  musste auf Druck des NS-Regime aus dem letzten Standort in der Johnsallee 68 ausziehen. Die chronisch Kranken kamen in das ebenfalls leerstehende Pflegeheim in der Schäferkampsallee 25/27.

Wer war Ella Michel?

Sie war im Oktober 1938 von Wuppertal nach Hamburg gekommen und hatte als Lernschwester im Israelitischen Kranken- haus in der Simon-von-Utrecht-Straße (damals Eckernförder Straße) ange- fangen. Später wohnte sie in der Johnsallee 68 und dann in der Schäferkampsallee 29, wohin das Krankenhaus umziehen musste. Weitere Schwestern waren u.a. Gertrud Stillschweig, Martha Dessen und  der Arzt Dr. Rolf Borgzinner. Am 10. März 1943 wurde Ella nach  Terezin/ Theresienstadt deportiert. Es war eine freiwillige Entscheidung von ihr, weil sie ihre blinde Mutter begleiten wollte, die im Juli 1942 von Düsseldorf nach Terezin verschleppt worden war. Sie entschied sich auch, ihre Mutter auf dem Weg am 16. Oktober 1944 ins KZ Auschwitz zu begleiten. Während ihre Mutter ermordet wurde, sah man sie als “arbeitsfähig” für Zwangsarbeit an. Mit der Auflösung des KZ Auschwitz Ende 1944 durch die SS begannen die Todesmärsche Richtung Deutschland. Ella Michel kam schließlich im KZ Bergen-Bergen an. Sie wog damals noch 35 Kilo. Seit der Auflösung der KZs im Osten von Dezember 1944 bis April 1945 wurden rund 85.000 Menschen von der SS nach Bergen-Belsen transportiert. Am 15. April 1945 wurde das KZ von der britischen Armee befreit. Ella Michel fuhr 1946 nach Schweden und emigrierte nach Brasilien, wo sie ein neues Leben aufbaute. 2013 starb sie im Alter von 93 Jahren.

Jetzt ist ihre Tochter das erste Mal in Hamburg. Vielleicht sehen wir uns? Ich bedanke mich für Ihr Interesse.

Gruß

Kommentare sind geschlossen.