2024 geht es im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Deportierten über die Schule Schanzenstraße am 15. und 19. Juli 1942 u.a. auch um das Israelitische Krankenhaus. Eine der Schwestern war Ella Michel, die seit 1938 dort arbeitete.
„Die ganze Familie, alle sind umgekommen. Ich bin die einzige Überlebende von über 30 Familien-Angehörigen“, sagte Ella Michel, eine Holocaust-Überlebende im Gespräch mit ihrem Enkel Ariel Magnus. Er hat die Gespräche mit seiner Großmutter aufgeschrieben und die Erzählung „Zwei lange Unterhosen der Marke Hering“ genannt.
Wer war Ella Michel?
Am 19. Februar 1920 kam Ella in Westhofen bei Worms als ältestes Kind von Berta Neuhäuser und Alber Michel auf die Welt. Der Vater hatte ein Geschäft für Langerzeugnisse und Brennholz. Ihre Schwester Irma wurde fünf Jahre später geboren.
Ella besuchte ab 1929 das griechische Gymnasium Lyzeum in Wuppertal. Dort lebte sie bei Bertas Schwester Else. Auch Irma wohnte eine Zeit lang dort. Die Partnerschaft ihrer Eltern ging zu Bruch und während Albert nach Dresden zog, blieb Berta in Westhofen. 1937 musste das Haus verkauft werden.
Lernschwester im Israelitischen Krankenhaus in der Eckernförder Straße 4
Ella begann 1938 eine Ausbildung als Lernschwester im Israelitischen Krankenhaus (IK) in Hamburg. Sie wohnte im Schwesternheim im Altbau des Krankenhauses in der Eckernförder Straße 4 auf St. Pauli. Die wirtschaftliche Lage des Krankenhauses veränderte sich in der NS-Zeit dramatisch, weil die Betten nicht mehr ausgelastet waren. Vor 1933 waren es 225 Betten, zu 60 Prozent waren die Patient:innen nicht-jüdisch. 1937 lag die Auslastung des Bettenkapazität bei 22,4 Prozent. Die Nazis verfolgten zudem das Ziel, sich das Gebäude einzuverleiben.
Warum Krankenschwester?
Auch Ella erlebte persönliche Repressionen: 1938 war es jüdischen Jugendlichen grundsätzlich nicht mehr erlaubt, eine staatlich anerkannte Ausbildung zu beginnen. Der Besuch einer staatlichen Berufsschule war ihnen verboten. Jüdische Einrichtungen kümmerten sich um die Ausbildung, da ein ergänzender Schulbesuch in den jüdischen Bildungseinrichtungen vom NS-Regime noch ermöglicht wurde. Später änderte sich auch das. Warum sie den Beruf erleben wollte, begründet sie so: „Es gab nur drei Berufe: entweder Krankenschwester zu lernen, in der Fabrik arbeiten oder eine niedere Arbeit zu machen.”
Sie erlebte in ihrer Zeit im Krankenhaus die Folgen der November-Pogrome von 1938: „Ich war als Lernschwester in Hamburg und dorthin kamen auch viele aus Buchenwald. Damals war der 9. November, als sie die Synagogen in Brand gesteckt haben. Und es kam auch viele aus Oranienburg in das jüdische Krankenhaus.“
Die Situation jüdischer Menschen veränderte sich in Deutschland weiter: Wurde bis 1938 die Strategie verfolgt, dass sich mit den antisemitischen Maßnahmen die Menschen vertreiben ließen, begannen mit der Deportation von tausenden polnischen Jüdinnen und Juden am 28. Oktober 1938 die terroristische Periode, die 1941 in die systematische und industrielle Vernichtung überging.
Erzwungener Umzug in die Johnsallee 68
1940 schloss Ella ihre Ausbildung ab. Das Israelitische Krankenhaus war im September 1939 bereits in die Johnsallee 68 in die Räumlichkeiten einer ehemaligen privaten Frauenklinik umgezogen, bzw. ein Teil der Patienten:innen in die Johnsallee 54. Die Stadt hatte das Krankenhaus mit einem Kredit unter Druck gesetzt, der 1929 für einen Erweiterungsbau am Standort in St. Pauli gewährt worden war. Die Gebäude mussten verkauft werden, die Restschuld wurde mit dem Wert des Krankenhauses verrechnet. Vermutlich wohnte Ella zu dieser Zeit in einer Einrichtung der jüdischen Gemeinde in der Beneckestraße 6, knapp 100 Meter von ihrem Arbeitsplatz entfernt.
Erneuter Umzug des Israelitischen Krankenhauses in die Schäferkampsallee 29
Die Fluchtbewegung nach den November-Pogromen 1938 und die großen Massendeportationen seit dem 25. Oktober 1941 hatten zur Folge, dass die Räume in der Johnsallee 54 aufgegeben werden mussten. Im Sommer 1942 zwang die Stadt das Krankenhaus, auch die Johnsallee 64 zu verlassen. Mit den restlichen 20 Patient:innen zog es in die beiden leerstehenden jüdischen Pflegeheime Schäferkampsallee 25/27 und 29. Der Krankenhausbetrieb erfolgte in der 29 – wo dann auch Ella Michel wohnte; die Unterbringung der chronisch Kranken im Gebäude in der 25/27.
Ella Michel erinnert sich, dass immer mehr „vom Krankenhaus ausgewandert (waren), nachher waren wir nur noch wenige Schwestern. Einige haben Selbstmord gemacht. Mit einer Schwester, die später in Uruguay lebte, haben wir die Kranken über die Treppen in den Bunker geschleppt, es gab keinen Aufzug … Ich war die Einzige, die keine Verpflichtungen hatte, die anderen hatten alle noch Eltern. Ich war die Einzige, die niemanden hatte, und da hab ich Tag und Nacht gearbeitet. Ich hatte fast nie Urlaub. Und alles, was ich verdient hab, hab ich meiner Mutter geschickt.“ Berta Michel lebte noch in Wuppertal. Sie litt unter einer Erbkrankheit und war erblindet. Am 21. Juli 1942 wurde sie über Düsseldorf nach Terezin/Theresienstadt Nähe Prag deportiert.
Deportation am 10. März 1943 nach Terezin
So wurde Ella am 10. März 1943 über den Hannoverschen Bahnhof in Hamburg mit weiteren 50 Menschen deportiert. Sie hatte entschieden, ihre erblindete Mutter im Getto nicht alleine zu lassen. „Ich war in Hamburg im Krankenhaus, als Krankenschwester, und war noch nicht im Transport. Ich hatte im Gefühl: Meine Mutter ist in Theresienstadt. Wenn ich mich nicht freiwillig gemeldet hätte, die anderen sind in Hamburg geblieben… es war schon fast das Ende… Die Fahrt dauerte zwei Tage, die letzten sechs Kilometer … sind wir zu Fuß gelaufen.” Im Getto arbeitete sie als Krankenschwester, ihre Mutter lebte in einem Blindenheim. „Wir konnten uns nur am Tag sehen. Als ich in Theresienstadt ankam, waren wir in Quarantäne. Nachher kam ich in ein Zimmer auf dem Dachboden.“ „Wir waren, waren in einem Zimmer vielleicht zehn Betten.“
Transport nach Auschwitz im Oktober 1944
Am 16. Oktober 1944 kamen Mutter und Tochter ins KZ Auschwitz – Ella hatte erneut entschieden, ihre Mutter nicht allein zu lasse. „Ich hätte nicht von Theresienstadt weg müssen … Der [Rabbiner] Dr. [Leo] Baeck und die anderen haben zu mir gesagt: ›Wenn Sie Ihre Mutter [aus dem Transport nach Auschwitz] rausnehmen, dann muss jemand anders mit.‹ Und da haben viele gesagt: ›Du bist dumm, die meisten, die wegkommen, die denken nicht so, die denken an sich.‹ Aber ich bin daraufhin freiwillig nach Auschwitz, ich wusste nicht, was Auschwitz ist, also ich wusste, dass es ein Arbeitslager war, sonst nichts. Dann hatte ich mein Leben lang ein ruhiges Gewissen. Ich hab als Kind meine Pflicht getan … Ich war mit meiner Mutter und den anderen Blinden in dem Transport, alles um mich herum Blinde, drei Tage lang, und die hatten Hunger, was machst du da? Und wie der Viehwagen in Auschwitz aufgemacht wurde, hat man die Leute rausgerissen und meine Mutter hat › Emma, Emma!‹ gerufen und ich wollte zu ihr, da gab mir einer einen Schlag, da bin ich auf die andere Seite, die Rettungsseite.“ Es war das letzte Tag, an dem sie ihre Mutter gesehen hatte.
Auflösung des KZ Auschwitz und Todesmarsch
Als die Rote Armee immer mehr Gebiete befreite und sich Auschwitz näherte, begann die SS die Vernichtungslager in den besetzten Ostgebieten zu räumen. Man glaubte noch an den Sieg und wollte deren Arbeitskräfte in Deutschland. Seit Sommer 1944 waren hunderte Außenlagern in Deutschland in der Nähe von KZs aufgebaut worden, um die Rüstungsproduktion wieder forcieren zu können. Wer zu jung oder zu alt war, wurde ermordet.
Ella Michel befand sich auf dem Todesmarsch nach Deutschland: „Wir waren etwa 1000 Frauen, auch ohne Tätowierung, nur mit einem Nummernschild an einer Kette, wie bei prämierten Tieren, je zu 100 in einen Viehwaggon getrieben; als das nicht ausreichte, einige auch in Vierte-Klasse-Wagen. Wir fahren eng aneinandergepfercht tagelang, die Eisenbahnlinien sind immer unter Beschuss. Wir fahren durch Oberschlesien und halten in Trachenberg [Zmigród, Polen]. Ohne trocken Brot oder Wasser werden wir von der SS und dem Jungvolk geschlagen und mit Stöcken getrieben, durch verlassene Dörfer und bei großer Kälte in ein riesiges Bauerngehöft mit Namen Kurzbach. Schweine-, Pferde- und Kuhstall sind unser Zuhause. Auf der endlosen Fahrt im Zug kamen die Frauen… Einige der Städte habe ich noch in Erinnerung: Wohlau, Striegau, Bautzen, Groß-Rosen … Wir konnten fast nicht mehr laufen in der Kälte, die Füße teils erfroren, die Frauen sagten, sie könnten nicht mehr, sie sollten uns umbringen. Denn in Groß-Rosen gab es ein KZ. Durch die vielen Zählappelle, durch die man uns Tag und Nacht schikanierte, waren wir völlig am Ende. Täglich starben viele Mitgefangene. Plötzlich wurden wir mit Stöcken und Hunden zu einer kleinen Bahnstation getrieben, in Viehwaggons zu je 100 reingepresst, und mit Fahrrädern der SS mussten wir den engen Platz noch teilen. Es ging, was ich aus meinen Geographiestunden noch wusste, an der Saale entlang, man sah die Wartburg und dann Weimar…, denn in Weimar gab es noch einen. … Weil die Tommys [Engländer] einen Militärzug vermuteten, gab es ein großes Bombardement. Die SS floh in die Luftschutzräume und schrie uns zu, wer aus dem Waggon flüchtet, wird erschossen. Es hagelte nur so Bomben und viele schrien, denn es gab viele Tote. Ich bekam einen großen Stein gegen die linke Schläfenseite und blutete, aber um mich herum lagen viele Tote.“
Ella Michel kam im KZ Bergen-Belsen an: „Ich wog 35 Kilo, aber man ist mit der Herde gegangen. Schlimm war [Bergen-]Belsen, diese Irma Grese, die ist immer mit ihrem Hund und ihrem Stock rundgegangen und hat die Leute geschlagen. Zehn oder zwölf Mal täglich gab es Zählappell und man musste eine Stunde lang strammstehen; wer zusammengebrochen ist, zu dem hat sie ihren Hund gejagt … Und morgens mussten wir in die Heide, du weißt schon, die Lüneburger Heide, Heidekraut ziehen. Das war nur, weil sie keine Arbeit hatten. Nachher musste man es zerrupfen und es kam in einem Apparat zum Weben, da wurden Gurte gemacht, um damit Kranke zu transportieren, zum Festhalten… Damit sie mich nicht erschossen, hab ich Tote geschleppt. Immer zu viert haben wir eine Leiche getragen und dann auf einen Haufen gelegt. Irgendwann konnte ich nicht mehr und habe mich selbst auf diesen Berg von Toten gelegt und bin ohnmächtig geworden. Ich bin in einem Bett aufgewacht, das Laken aus weißem Papier hatte.“
Befreiung des KZ Bergen-Belsen im April 1945
In den Monaten der Auflösung der KZ im Osten waren an die 100.000 Menschen nach Bergen-Belsen verschleppt worden. Am 15. April 1945 erlebte Ella Michel die Befreiung des KZ Bergen-Belsen, die Überlebenden befanden sich in einer katastrophaler Lage.
1946 über Schweden nach Brasilien
1946 verließ Ella Michel Bergen-Belsen und fuhr mit dem Zug nach Lübeck und dann weiter nach Schweden.
Dann verließ sie Europa und wanderte nach Brasilien aus. Dort starb sie 92-jährig am 2. November 2013 in Porto Alegre.