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Holger Artus

Vier Infos in der Nachbarschaft verteilt

Aus Anlass des 9. November 1938, den November-Pogromen gegen jüdische Menschen, wird Kurt Goldschmidt aus New York auf einer Kundgebung am 9. November 2023, 18 Uhr  vor der Ganztagsgrundschule Sternschanze zu hören sein. Er ist vor einigen Monaten 100 Jahre alt geworden und ist einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen und hat sehr viele Bezüge in unserer Nachbarschaft. Wo er aufgewaschsen ist, habe ich einen Info in die Briefkästen der heutigen Nachbarn gesteckt.

Aufgewachsen in der Talstraße 21

Er wurde am 30. März 1923 in Hamburg geboren und lebte mit seinen Eltern, Hermann (gebr. 1880) und Helene (gebr. 1892) sowie seiner Schwester Edith (gebr. 1919), bis 1929 in der Talstraße 21. Seine Eltern hatten in der Silbersackstraße 26 (heute der Abschnitt Balduinstraße) einen Wäschereibetrieb. Sein Vater war jüdisch, seine Mutter evangelisch Konfession. 1930 folgte der Umzug in die Hochallee 29, später in die Marienthaler Straße 57 (1933). Sein Vater Hermann war am 2. Juni 1943 nach einem Zwangsarbeitseinsatz im Hamburger Hafen gestorben. Ein Stolperstein erinnert an ihn in der Marienthaler Straße vor dem Spielplatz.

Hochallee 29

Seine Eltern hatten 1930 in der Eppendorfer Landstraße und der Fuhlsbüttler Straße 120 erfolgreiche Wäscherei-Geschäfte aufgebaut. Kurt erinnert sich, dass während seine Eltern, Hermann und Helene, beide in den Geschäften arbeiteten, er und seine Schwester, Edith, zu Hause von einem Kindermädchen betreut wurden. Der Umzug in die Hochallee erfolgte mit seiner Schulpflicht. Er besuchte ab 1929 Bertram-Schule, erst in der Esplanade, ab 1931 im Harvestehuder Weg 65-67, die vor allem die jüdische Eltern aus der Kaufmannsschicht für ihre Kinder wählten. An seine Kindheit in der Hochallee erinnert er sich gerne: “Im Keller des Hauses war ein kleiner Brotladen, wo wir morgens immer unsere Brötchen kauften. Ein Milchgeschäft war in dem Wohnhaus nebenan. Unser Wohnhaus war das größte in der der Hochallee.” 1933 zogen sie in den Marienthaler Straße 57, da sein Vater ein weiteres Geschäft in der Wandsbeker Chaussee eröffnet hatte. Er erinnert sich noch, dass kurz vor ihrem Auszug, dass “die Wohnungen …Zentralheizung und das Haus bekam einen Fahrstuhl”, bekamen.

Marienthaler Straße 57

Heute lebt Kurt Goldschmidt in New York und ist vor einigen Monaten 100 Jahre geworden. Da sein Vater Jude war, wurden er und seine Familie in der NS-Zeit verfolgt: Er wurde aus der Schule Averhoffstraße vertrieben und konnte nicht studieren. Nach dem 9. November 1938 wurde er aus seinem Lehrbetrieb geschmissen, wurde jüdischer Zwangsarbeiter in einer Rüstungsfirma, musste einen „Judenstern“ tragen und wurde nach Theresienstadt/Terezin deportiert. Der Boykott jüdischer Geschäfte traf die Goldschmidts, die vier Wäscherei-Betriebe hatten, schwer: Nach dem Novemberpogrom 1938 gaben die Eheleute Goldschmidt nacheinander die drei Geschäfte auf, als letztes am 31. März 1939 ein Geschäft in der Fuhlsbüttler Straße.

Kurt ging bis Ostern 1938 in die Bertram Schule im Harvestehuder Weg 65-67. Über sein zu Hause sagt er: „Das Leben in Hamm war angenehm, wir fuhren oft mit dem Fahrrad zum nahegelegenen Hamburger Park, und auch die Hamburg-Lübecker Autobahn, die um diese Zeit gerade gebaut wurde… Ich erinnere von dieser Zeit, dass wir oft Fußball spielten.” In der Marienthaler Straße 56, den Goldschmidts direkt gegenüber, war das Backgeschäft von Frau Solbrig. “Sie war eine sehr nette Ladeninhaberin”, erinnert er sich. Kurt erlebte die antisemitische Hetze der Nazis, der die Nachbarschaft und auch Kinder ansteckte. Im Jahr 1935 saß er mit Jungen vor einem Nachbarhaus: “Da kamen ‘2 Freunde’, die nur selten mit uns auf der Straße spielten. Sie grüßten jeden mit Handschlag. Als ich jedoch meine Hand ausstrecke, übersahen sie mich und erklärten: ‘Wieso bist du noch hier? Du gehörst doch nach Jerusalem.’…’Ihr ward lange genug in Deutschland, hau ab, du Schwein.’” Doch Kurt organisierte sich seine Freizeit weiter mit anderen Jugendlichen, z.B. in Jugendgruppen. “In den Sommerferien und auch während der Osterzeit machte ich Reisen  in die Lüneburger Heide mit dem Fahrrad. Wir fuhren südlich bis in die Gegend von Celle. “

Ende Mai 1943 wurde sein Vater,  Hermann Goldschmidt, inzwischen 63 Jahre alt, vom Arbeitsamt für Juden als Lagerarbeiter eingesetzt. Bei der Arbeit in der Zugluft an offenen Ladeluken zog er sich eine schwere Erkältung zu und wurde in das Behelfskrankenhaus der jüdischen Gemeinde in der Schäferkampsallee 29 gebracht, wo er am 2. Juni 1943 starb. Vor dem Spielplatz in der Marienthaler Straße liegt ein Stolperstein für Hermann Goldschmidt.

Erinnerungen an die November-Pogrome 1938

Er hat als einer der wenigen heute noch lebenden Zeitzeugen den 9./10. November 1938 erlebt.  An diesen Tagen stecken die Nazi in Hamburg alle Synagogen in Brand. Fast 1.000 Juden aus Hamburg wurden damals von der Polizei willkürlich verhaftet, misshandelt und hunderte von ihnen ins KZ verschleppt. Hunderte jüdische Geschäfte wurden zerlegt. Diese November-Pogrome, die so genannte Reichskristall-Nacht, war eine der Höhepunkte der antisemitischen Hetze und dem beginnenden Terror von der Verschleppung bis zur ihrer Ermordung durch des NS-Regime. 

Am Morgen des 10. November 1938 ging er zu seinem Ausbildungsunternehmen, Frankfurter & Liebermann im Kaufmannhaus, Hohen Bleichen. Liebermann war bereits einige Tage vorher aus der Hamburg Börse rausgeschmissen worden, da er Jude war. Auf dem Weg über die Schleusenbrücke/ Neuen Wall (am Hamburger Rathaus) ging Kurt am bereits zerstörten Kaufhaus der Gebr. Robinson vorbei. “Ich traute meinen Augen nicht, als ich Fensterscheiben zerschlagen sah. Viele Leute, manche in SA und anderen Nazi-Uniformen und auch Frauen standen vor dem Geschäft. Andere gingen hinein und kamen mit gestohlenen Kleidungsstücken wieder heraus.” Im Geschäft angekommen, wurde er gleich wieder nach Hause geschickt. “Alle jüdischen Geschäfte wurden ‘arisiert’. Das hieß, dass alle Firmen, deren Inhaber jüdisch waren, von einem ‘Arier’ übernommen wurden … Der Inhaber, Herrn Liebermann“, so erinnert sich Kurt, „konnte das Geschäft nicht mehr betreten…  ich konnte meine Lehrzeit bei Frankfurter & Liebermann nicht mehr fortsetzen, da die ‘arisierte’ Firma keine Juden mehr einstellte.“

Was war das mit den Deportationen ab 1941?

Seit 1941 wurden aus Hamburg mehr als 8.000 jüdische Menschen sowie Roma und Sinti in den Osten deportiert, nach Auschwitz, Riga, Lodz, Minsk oder Theresienstadt. Nur wenige überlebten. Die Nazi wollten 10 Millionen europäischen Juden vernichten, so die Zielsetzung der Wansse-Konferenz von Dezember 1941. Kurt gehörte zu den jüdischen Menschen, die bereits am 7. November  1941 den Deportationsbefehl bekamen und am 8. November auf der Moorweide sein sollte. Seine Mutter intervenierte und er wurde von der Liste gestrichen. Kurt begleitete am Tag noch seine Freunden:in auf dem Weg von der Moorweide (Dammtor) zum Hannoverschen Bahnhof. 

Zwangsarbeiter bei Oskar Wille in der Eimsbüttelerstraße 36 seit 1941

Nach dem Verlust seiner Lehre bei Frankfuter & Liebermann fing Kurt eine Schlosserausbildung in der jüdischen Werkschule in der Weidenallee 10bc an. Bis zur Schließung der Lehrwerkstatt im April 1941 war sie für einige Monate von “Beim Schlump 32” untergebracht. Zusammen mit weiteren fünf jüdischen Zwangsarbeiter war er dazu verpflichtet worden, bei Oskar Wille zu arbeiten. Es war ursprünglich ein Heizungsbauunternehmen und war 1920 gegründet worden und hatte seinen Standort in der Eimsbütteler Straße 36 im Hinterhof (36a) im preußischen Altona. In der NS-Zeit stellte es Kriegsmaterial für die Marine her. Sie waren aber nicht alleine: Seit Dezember 1941 wurden dort auch zehn französische Zwangsarbeiter eingesetzt. Später kamen sowjetische Kriegsgefangene und italienische Militärinternierte (IMI) dazu. „Diese Kriegsgefangenen wurden morgens von älteren Soldaten gebracht und Nachmittags wieder abgeholt; “ erinnerte sich Kurt Goldschmidt. Die IMI lebten im Lager in der Schilleroper.

1943/1945 Mieter in der Wohlers Allee 24

Nach der  „Operation Gomorrha“ im  Juli 1943 waren seine Mutter, Helene, seine Schwester, Edith und er erst nach Schwerin, dann nach Wismar geflohen. Er kehrte eigenständig nach Hamburg zurück, eben in die Wohlers Allee 24 und arbeitete bei Oskar Wille in der Eimsbütteler Straße 36a.  Er wohnte bei Anni Nagel im 4. Stock der Wohlers Allee 24. „Tante Annie, die Frau meines Mutters Bruder, lebte in der Wohlersallee. Ihre Wohnung war durch Bomben halb zerstört.  Sie war mit ihren Kindern aufs Land gezogen. Dadurch war die halb zerstörte Wohnung frei. Sie wurde nicht beim Wohnungsamt als verfügbar gemeldet, da zwei Zimmer nach hinten keine Wende mehr hatten … Ein Nachbar, der eine Etage unter mir wohnte, lud mich einmal ein, zu seiner Wohnung zu kommen. Er hatte erfahren, wer ich war und er war ein ausgesprochener Antinazi.” Das mörderische NS-System verfolgte seine Vernichtungspläne gegenüber den jüdischen Menschen bis zum Schluss weiter. Kurt wurde 1945 nach Theresienstadt/Terezin,in der Nähe von Prag, deportiert.  “Im Dezember 1944 kam ein Polizist an die Tür in der Wohlersallee …und erklärte mir, dass ich mich beim Polizeirevier melden sollte… Ein paar Tage später erhielt ich eine Mitteilung, dass ich mit Gepäck zur Talmud Tora-Schule kommen sollte”, um deportiert zu werden. Über den Hannoverschen Bahnhof (heute Hafencity) wurde er über Berlin und Dresden nach Theresienstadt/ Terezin verschleppt.

Im Mai 1945 wurde das Getto/KZ Theresienstadt/ Terezin von der Roten Armee befreit. Kurt reiste nach Hamburg zurück und wohnte zuerst in der Rutschbahn 25a. 1949 zog er mit seiner Mutter und Partnerin, Sonja Schäfer, in die USA.

Nachbarschafts-Infos verteilt

In den vergangenen Tagen wurden an alle damaligen Wohnadressen von Kurt Goldschmidt bis 1945 die heutigen Nachbarn informiert, dass er am 9. November 2023 zu hören sein wird. Hier die einzelnen Infos:

Talstraße 21

Hochallee 29

Marienthaler Straße 57

Über die Zwangsarbeit bei Oskar Wille

Wohlers Allee 24

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