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Holger Artus

Noch einmal über die jüdische Werkschule in der Weidenallee 10bc, diesmal eine Einladung zum Rundgang am 28. Juni 2023

Diese verteilte Info in der Nachbarschaft der Weidenallee 10 diente zum einen der Einladung der Nachbarschaft zum Stadtteilrundgang und deren Info, zum anderen der allgemeinen Bewerbung des Stadtteilrundgangs am 28. Juni 2023 über die Web-Seite www.sternschanze1942.de.

Rund 60 Exemplare habe ich in die Briefkästen gesteckt. Ich rechne nicht groß damit, dass jemand aus den Häusern kommt, vereinzelt ist immer möglich. Mein Bild ist aber auch, dass einige das Ding zu Ende lesen und dem Inhalt für sich zur Kenntnis nehmen. Den Teil zur Peter Glück habe ich in einer Extra-Info auch um die Margatenstraße 38 verteilt.

Liebe Nachbarn, am 28. Juni 2023 findet ein Stadtteilrundgang durch die Straßenzüge bei uns im Viertel statt, der sich mit dem Thema „Widerstand in der NS-Zeit“ befasst. Anlass ist der Jahrestag der Deportation von über 1.500 jüdischen Menschen über die damalige Schule Schanzenstraße am 15. und 19. Juli 1942. Wir wollen an sie mit einer Kundgebung vor der Namenstafel der Juli-Deportierten im Haupteingang der Ganztagsgrundschule Sternschanze in der Altonaer Straße 38 am 19. Juli 2023, 17 Uhr, erinnern. Wir wollen aber auch das Bild vermitteln, dass es Menschen gab, die sich gegen das NS-Regime stellten und handelten. Es soll um Solidarität, Selbstbehauptung, Ungehorsam, Ablehnung des Krieges und den politischen Widerstand gehen. Wir starten vor der Schanzenstraße 41, wo einst das Büro von Carl von Ossietzky war, dem Friedensnobelpreisträger, der 1938 ermordet wurde. Der Rundgang führt weiter durch die Bartelsstraße, die Amandastraße, die Schäferstraße und endet vor dem Eingang in den Hinterhof zur Weidenallee 10 bc.

Wir wollten Sie vorab informieren, so dass Sie im Zweifel wissen, warum sich in der Nähe Ihres Wohnhauses Menschen einfinden. Natürlich sind sie willkommen. Wir sind voraussichtlich um 18.45 Uhr vor der Einfahrt auf Höhe der Weidenallee.

Den Ort haben wir bewusst gewählt, weil ich denke, dass auch das Ringen der Menschen, zu überleben, sein Gewissen nicht abzugeben, sich als Verfolgte und Verleumdeten trotz alledem zu behaupten und zusammen zu stehen, zum Widerstand gegen das NS-Regime gehörte. Die damalige Werkschule in der Weidenallee 10bc bot den Jugendlichen vieles, um zu überleben. Sie bot Hoffnung für ein besseres und solidarisches Leben. Sie bedeutete Wertschätzung und Achtung. Die Werkschule sollte den Jugendlichen eine Ausbildung als Schlosser und Tischler verschaffen, so dass sie diese Fertigkeiten in der Emigration anwenden können. 

Diese Tage habe ich mit dem wohl noch einzigen lebenden Zeitzeugen aus der Werkschule, Kurt Goldschmidt, telefoniert. Er lebt in New York und ist gerade 100 Jahre alt geworden. Er hatte mir mehrere Fotos geschickt, die u.a. eine Sportfeier zeigt, die sie im Stadtpark organisiert hatten.  Mit dabei war auch der Ausbildungsleiter, Walter Mannheim, aus der Schäferstraße 8, wo heute Stolpersteine an die Familie erinnern. Trotz des furchtbaren Geschehens am 9. November 1939, den November-Pogrome,  der ersten Deportation am 28. Oktober 1939, gaben die jüdischen Jugendlichen ihre Hoffnung nicht auf. 

Wir sprachen auch über den 15 jährigen Peter Glück, der zu den Deportierten vom 19. Juli 1942 über die Schule Schanzenstraße gehörte, “der kleine Peter”, wie er sich an ihn erinnerte. Über ihn werden wir am 28. Juni 2028 auch sprechen. Leider überlebte er nicht. Am 28. September 1944 wurde er von Theresienstadt/Terezin bei Prag nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. 

Er wurde am 14. November 1925 in Hamburg geboren. Seine Mutter, Erna Littmann, hatte ihn und Ellen Glück (geboren am 19. April 1924) in die Ehe mit Fritz Bogisch gebracht. Beide hatten am 25. Juli 1931 geheiratet und wohnten zum Zeitpunkt in der Margaretenstraße 34, im Haus 2. Erna sprach davon, dass er trotz der Ehe mit dem evangelischen Partner, jüdisch erzogen worden sei. Peter ging auf die Talmud Tora-Schule im Grindelviertel. Nach der achten Klasse verließ er sie  und wollte eine Lehre beginnen. Da er jüdischen Glaubens war, wurde ihm aber eine Besuch in der Berufsschule verweigert.

Staatsarchiv Hamburg 213-13_30587

Während seine Schwester eine Ausbildung als Krankenpflegerin im Jüdischen Altenheim in der Grünestraße 5, Altona, begann und in der dortigen Einrichtung lebte, wohnte Peter bei seinen Eltern, seit 1940 im Schopenstehl 1-3. Eine Adoption der beiden Kinder durch Fritz Bogisch hatten die Behörden abgelehnt. Für die beiden Kinder sollte das später furchtbare Folgen haben, da sie nach den rassistischen Gesetzen „Volljuden“ waren und am 19. Juli 1942 deportiert wurden, während Erna durch die Ehe mit Fritz zeitweilig vor der Deportation schützte. Erna wurde am 24. Februar 1945 nach Theresienstadt/Terezin deportiert. 

Peter Glück arbeitete erst als Zeitungszusteller, bevor er in der Weidenallee 10bc im 4. Stock eine Schlosseraus- bildung anfing. Das NS-Regime hatte die Schule toleriert, da deren Ziel die Emigration der jüdischen Jugendlichen war. Noch ging es ihnen nicht um die Vernichtung aller europäischen Juden.  Peter Glück zog 1941 auf Empfehlung eines Freundes der Familie in das Jüdischen Waisenheims in der Papenstraße (heute Martin Luther King-Platz). Zum Zeitpunkt der Deportation am 19. Juli 1942 wohnte Peter in der Kielortallee 22 bei Eman. Cohn. Seine Schwester, Ellen, hatte zu der Zeit als Krankenschwester im Israelitischen Krankenhaus in der Johnsallee 54 angefangen und lebte dort. Beide überlebten nicht.

Erna Bogisch erlebte wie Kurt Goldschmidt die Befreiung von Theresienstadt durch die Rote Armee. Im Juni 1945 kehrte sie nach Hamburg zurück. Beide wussten zum Zeitpunkt nichts über das Schicksal ihrer Kinder. Sie wurden erst später für tot erklärt. 

Wir können das Geschehene nicht ändern und tragen als Nachgeborene keine Schuld, aber wir tragen m.E. Verantwortung, in angemessener Form damit umzugehen. Vielleicht sehen wir uns am 28. Juni 2023 auf der Weidenallee 10 oder am 19. Juli 2023 an der Altonaer Straße 38?

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