Ansichten

Holger Artus

Eine neue Begegnung mit Hans

Mein Vater Hans ist 15 Jahre tot. Oft ist er Thema bei uns, vor allem, wenn ich meine Mutter besuche. Wie würde er heute, 96-jährig, den Alltag meistern? Würde er vom Smartphone oder Tablet Filme auf den Fernseher streamen können, wie würde es ihn ihm mit den Mediatheken, den Streaming-Dienste von Amazon, Netflix & Co ergehen?


Schulhaus „Paulinum“ des Rauhen Hauses, erbaut 1874, um 1910 Quelle: G. Rasquin: Hamburg-Horn (Reihe Archivbilder), Sutton-Verlag 2003, S. 75, 78

Ein Gespräch im Hamburger Staatsarchiv führte dazu, dass mein Vater Teil von Diskussionen und Erinnerungen wurde. Hildegard Thevs, eine Biographie-Schreiberin für die Stolpersteine, erzählte, dass sie Lehrerin in der Wichern-Schule gewesen sei. „Mein Vater ging auch auf die Wichern-Schule“, sagte ich. Ein kurzer Blick in meine Richtung und dann sagte sie, dass sie sich an einen „Artus“ erinnert, der ihr etwas über die Wichern-Schule vor einigen Jahren erzählt hatte. Ihr „Artus“ hatte sich nach Zeitungsmeldungen bei ihr gemeldet. Sie wollte sich zu Hause noch einmal vergewissern und schickte mir eine Mail: Es handelte sich tatsächlich um meinen Vater. 

Hans Artus, 1945

Ich kenne ihn als vorsichtigen, strebsamen und eher ängstlichen Menschen, der bis zu sieben Tage die Woche arbeitete. Er hatte sich Anfang der 1960er Jahre als Industriefotograf selbstständig gemacht. Von „früher“ hatte er nur sehr wenig erzählt. Die Trümmer, die Hamburg zerstört hatten, lagen auch auf seinen Erinnerungen. Er war sechs Jahre alt, als Adolf Hitler an die Macht kam.Er war 13, als der 2. Weltkrieg begann und 16, als er zur Wehrmacht abkommandiert wurde. Dass er wenig über diese Zeit redete, lag auch an der nicht aufgearbeiteten NS-Zeit. Diese Generation versteckte sich dahinter, dass es eine schlimme Zeit war. Es gab keine Reflektion, dass dies mit zur Folge hatte, dass es bis heute einen Teil unaufgearbeitete Geschichte gibt. 

Meine Kinder und ich kennen seine wenigen Erzählungen von früher, einordnen konnten wir sie kaum, oft haben wir sie gedanklich zur Seite gelegt. Ab 1943 wurde sein Jahrgang, 1926, zur Wehrmacht einberufen. Mit seinen beiden Mitschülern, Horst-Erich Kleemann und Dieter Weitzel, war er als Luftwaffenhelfer auf Flag-Batterien in Hamburg eingesetzt worden – irgendwo in Billstedt, glaube ich. Er war alles andere als ein begeisterter Soldat. Er hatte außerdem eine Vorliebe für die amerikanische Jazz-Musik. In der NS-Zeit war sie als „Swing-Musik“ diskreditiert. Wer sie hörte, wurde verfolgt. Mein Vater erzählte, dass er die illegal besorgten Platten gut verpackt in großen Blumentöpfen im Tonndorfer Sonnenweg bei seinem Vater versteckte. Er und seine Mitschüler mochten Jazz und tanzten gerne dazu. Auch hatte er über einen Besuch in der Wichern-Schule erzählt.

Ein Nebensatz von Frau Thevs sortierte die wenigen Erzählungen meines Vaters noch einmal neu: „Mit großem Respekt hatte er von Bruno Himpkamp gesprochen.“ Bruno Himpkamp war ebenfalls Schüler der Wichern-Schule gewesen, 1925 geboren. Er verstand sich als Teil der so genannte Swing-Jugend. Himpkamp musste die Schule 1942 verlassen. Der Vorwurf an ihn lautete, dass er seine Mitschüler politisch beeinflusst und gefährdet hätte. Im Sommer 1942 wurde er während einer Verhaftungswelle der Gestapo gegen „amerikanisierte“ Jugendliche festgenommen, aber wieder freigelassen. Das sollte sich aber am 12. Mail 1943 in einer  weiteren Verhaftungswelle ändern. Bruno Himpkamp kam ins Polizeigefängnis Fuhlsbüttel und wurde am 6. Juni 1944 in das KZ Neuengamme verschleppt. 

Die Swing-Jugend hatte sich in Hamburg herausgebildet. Die Anhängerschaft hörte Jazz und tanzte, statt im Gleichschritt zu marschieren. „Undeutsch“ fanden das die Nazis und reagierten mit Härte. Für das NS-Regime war der Lebensstil der unpolitischen Swing-Jugend eine Provokation. Swing-Musik galt als „entartet“ und „undeutsch“. Den „Swings“ wurde eine „gefährliche, staatsfeindliche Einstellung“ angelastet, die sich nicht der „Gemeinschaftserziehung“ beugen würde. In Hamburg werden sie von der Gestapo beobachtet. Polizei und Hitlerjugend führten Kontrollen durch, verhafteten „Swings“, verhängten Jugendarreste und Schulverweise.

Unter  18-Jährigen war 1940 der Besuch „öffentlicher Tanzlustbarkeiten“ verboten. Um gegen die musikbegeisterten Jugendlichen vorzugehen, gab es bereits am 18. August 1941 eine „Sofort-Aktion gegen die Swing-Jugend“. 300 Angehörige wurden vorübergehend festgesetzt. Weitere Repressionen reichten vom Abschneiden langer Haare über Schutzhaft und -verweise bis zur Verhaftung angeblicher „Rädelsführer“ und deren Deportation in Konzentrationslager. Die Verhaftungswelle hatte zur Folge, dass manche der Swing-Jugendlichen begannen, den Nationalsozialismus auch politisch abzulehnen. Vermehrt wurden private Partys mit Jazzmusik organisiert. Die Abspielgeräte, Grammophone, war waren für heutige Verhältnisse monströs groß, aber eben auch transportabel. Die Jugendlichen trafen sich mit Freundinnen und Freunden in Cafés, Kinos, Parks und Eisdielen, feierten Partys und tanzen auf Konzerten. Planten un blomen war ein beliebter Treffpunkt. Dabei war immer das Koffergrammofon, Schallplatten von Benny Goodman und Duke Ellington oder Artie Shaw. Es wurde getanzt, gesungen, gepfiffen und „gehottet“. Vom Hotten erzählte mein Vater oft. 

Alliierter Ausweis für den ehemaligen politischen Häftling Bruno Himpkamp Quelle: Wikipedia

Bruno Himpkamp war 1945 Hauptangeklagter im Verfahren gegen ihn selbst, Gerd Spitzbarth und Thorsten Müller, einem Teilverfahren der Prozesse gegen die Mitglieder der Hamburger Weißen Rose. Die Verhandlung fand am 19. April 1945 vor dem NS-Volksgerichtshof in Hamburg in seiner Abwesenheit statt. Er war bereits am 12. April 1945 durch amerikanische Truppen in Stendal befreit worden.“ Er starb am 8. Dezember 2008 in Hamburg. Mein Vater starb zwei Jahre zuvor, kurz vor seinem 81. Geburtstag.

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