In St.Georg lebten mehrere Sinti und Roma, die von hier von der Kriminalpolizei 1940 und 1943 abgeholt und zum Fruchtschuppen C bzw. dem Hannoverschen Bahnhof gebracht wurden. Elisabeth Korpatsch musste hier in einem „Mädchenwohnheim“ leben. Ich habe dennoch in der ganzen Alexanderstraße jetzt einen Nachbarschafts-Info zu ihr verteilt. Es ist nicht die einzige Aktivität, aber die, über die man schreiben kann.
In der Alexanderstraße 21 befindet sich heute kein „Mädchenheim“ mehr, auf das ich mich in der Betreffzeile beziehe. Die 16-jährige Elisabeth Korpatsch hatte dort bis zum 11. März 1943 gewohnt. An diesem Tag wurde sie nach Auschwitz deportiert und zwei Monate später ermordet. Sie gehörte zur Volksgruppe der Sinti und Roma, die durch das NS-Regime verfolgt und zehntausendfach ermordet wurden.
Um was geht es?
Ich möchte an die Sinti und Roma erinnern, die in der NS-Zeit in St. Georg wohnten. Ab 1933 begann die staatlich verordnete Diskriminierung und Ausgrenzung von “zigeunerischer Personen”, gepaart mit rassistischer und völkischer Ideologie. 1935 wurden Sinti und Roma in den Nürnberger “Rassegesetzen” jüdischen Menschen gleichgesetzt: „Zu den artfremden Rassen gehören alle anderen Rassen, das sind in Europa außer den Juden regelmäßig nur die Zigeuner”, erklärte der damalige NS-Innenminister Wilhelm Frick. Die „deutsche Wesensart“ sei Sinti und Roma fremd, sie seien „asozial“ und „arbeitsscheu“.
Welches NS-Opfer wohnte in Ihrer Nachbarschaft?
Elisabeth Korpatsch wurde am 26. Februar 1927 in Hamburg geboren. Zum Zeitpunkt der Deportation im März 1943 lebte sie im „Mädchenheim“ in der Alexanderstraße 21. Sie war Tochter von Johannes und Baba Korpatsch, die acht Kinder hatten. Elisabeth wuchs bei Pflegeeltern auf. Sie wurde Ostern 1933 in die Mädchen-Volksschule in der Paulstraße (später Otzenstraße/heute Thadenstraße) in Altona eingeschult. Dort blieb sie bis Ende 1938. Anfang 1939 wechselte sie in die Volksschule Frohmestraße, weil ihre Pflegeeltern nach Schnelsen gezogen waren und vollendete dort 1940 ihre Schulpflicht. Aus ihrer Wiedergutmachungsakte ergibt sich, dass sie danach in einem Friseurgeschäft gearbeitet haben soll. Es gibt hierzu Zeugenaussagen sowie eine Duplizität der Namen ihrer Pflegeeltern in Verbindung mit einem Friseurgeschäft im Stellingen Steindamm 47, Stefan Baumgartner.
Ihr weiterer Lebensweg war bis zu ihrer Deportation von Heimwechseln geprägt: Vom “Abendroth-Haus” in der Hammer Landstraße 204 musste sie am 30. Oktober 1942 in das katholische „Mädchenheim“ in der Böckmannstraße 28 wechseln. Von dort wurde sie in das „Mädchenheim“ in der Alexanderstraße 21 verlegt. Diese „Heime“ gaben sich ein christliches Antlitz, waren aber Teil der Xenophobie.
Welche Rolle hatten die christlichen Kirchen bei der Verfolgung der Sinti und Roma?
In der Alexanderstraße 21/23 befand sich seit 1928 ein “Mädchenheim”. Es gehörte der Mitternachtmission, einem Verein, der von dem evangelischen Pastor Wagner geführt wurde. 1942 wurde der Verein vom evangelischen Landeskirchenamt für Innere Mission übernommen. Der Landesbischof der evangelischen Kirche, Franz Tügel, der diese Funktion von März 1934 bis Juli 1945 ausübte, war seit 1931 NSDAP-Mitglied und bekennender Antisemit. Nach 1945 bezeichnete er das „Hauptkontingent“ der KZ-Insassen als „Strolche und Banditen“.
Die Mitternachtsmission war ein übler Teil der rassistischen Diskriminierung und Verfolgung der von der Gesellschaft ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen, zu denen auch Sinti und Roma gehörten. So wurde die Zwangssterilisation an allen Menschen unterstützt, die das „deutsche Erbgut” gefährden und nicht zur „Mutter-Ideologie” der Nazis passten. Dazu zählten Sexarbeiterinnen, Sinti und Roma, Alkoholkranke, Epileptiker:innen und alle weiteren, die nicht zur Gesellschaft zugehörig gesehen wurden: Deren Sterilisation sei im Interesse des deutschen Volkes. Die Frauen/Jugendlichen, die im “Mädchenheim” Alexanderstraße 21 lebten, sollte der Zweck ihrer Sterilisation erläutern werden. Die Mitternachtsmission begrüßte die „gesundheitlichen” Gesetze, da sie zwischen „erbbiologischen wertvollen” und „erbbiologisch minderwertigen Bestandteils des deutschen Volkes” unterscheiden würden. Dazu gehörte z.B. auch, dass geschlechtskranke Menschen nicht heiraten dürfen. „Minderwertigen Erbanlagen, deren Weitergabe auf die Nachkommen nicht erwünscht ist, bezog sich auch auf das Verbot von Ehen, die für die deutsche Volksgemeinschaft unerwünscht” erschienen. Darunter war nach Meinung der Mission die „Anomalie zu gemeinschädlichem Verhalten, Arbeitsscheue, Landstreichertum oder Prositition” zu verstehen. Bei den Zwangssterilisierten, die in den Mädchenheim wohnten oder wohnen mussten, sah die Mission ihre Aufgabe darin, ihnen ihre Lage zu erklären, dass „ihre Unfruchtbarmachung im Interesse der Volksgemeinschaft und der Erbsünde notwendig war.” Gleichzeitig zweifelte man daran, dass man die Frauen erreichen kann: „Können wir unsere Schützlinge überhaupt zu der richtigen Einsicht der Sterilisation und zu dieser christlichen Erkenntnis führen?” Bei dem größten Teil der Sterilisierten „liegt meistens eine asoziale Haltung vor …” Von vorne bis hinten wird die antizigane Haltung der Kirchenvertreter:innen aus der Mitternachtsmission in der NS-Zeit sichtbar.
Heute gibt es von der Diakonie das Angebot „Sperrgebiet” in der Lindenstraße oder die autonome Einrichtung „Ragazza” in der Brennerstraße. Es sind niedrigschwelle Angebote in St. Georg zur Hilfe für Frauen, die Drogen gebrauchen und der Sexarbeit nachgehen. Sie sind in keiner Weise mit dieser niederträchtigen und frauenverachten Aktivität der Mitternachtmission in der Alexanderstraße 21/23 in der NS-Zeit vergleichbar, sondern verfolgen einen akzeptierenden, feministischen Ansatz.
Stolperstein liegt vor der Schule Frohmestraße
An Elisabeth Korpatsch erinnert seit Jahren ein Stolperstein vor der Schule Frohmestraße, wo sie zum Schluß zur Schule ging. Es gibt einen wunderschönes Video von Schülerinnen zu ihr.