Am 12. Januar 2023 feiert Ruth Dräger ihren 95. Geburtstag in Hamburg-Eimsbüttel. Heute Morgen habe ich mit ihr telefoniert und ihr gratuliert. Ende 2022 war ich ihr persönlich begegnet. Bis zum Sommer 2021 kannte ich ihren Namen nicht.
Anlässlich der Übergabe der Namenstafel der 1.700 deportierten jüdischen Menschen über die Schule Schanzenstraße vom 15. und 19. Juli 1942 an die Öffentlichkeit am 15. Juli 2022 wurde ich von einer Schülerin gefragt, wo der Name von Ruth Geistlich sei? Ich zuckte zusammen: Kaum, dass die Tafel angebracht war, trat schon der erste Fehler auf? Die Frage war gleich geklärt, so dass ich wusste, dass Ruth Geistlich am 10. März 1943 deportiert wurde. Was ich aber noch nicht verstand, war, dass Ruth Geistlich das Lager in Theresienstadt überlebt hatte und heute ganz in meiner Nähe wohnte.
Bei den folgenden Gesprächen und dem Versuch, den direkten Kontakt herzustellen, entstand auch der Gedanke, am 10. März 2023 an diese Deportation unter Beteiligung der Nachbarschaft zu erinnern. Daran arbeite ich zur Zeit, um eine Kundgebung und angemessene Erinnerung organisiert zu bekommen. Im Blick ist eine Kundgebung in der Bornstraße. Natürlich war der Gedanke, dass Ruth Drähte noch lebt, dass treibende Motiv, aber zwischenzeitlich gibt es weitere Kontakte zu Angehörigen von NS-Opfer dieser Deportation und es entblättern sich mir Erzählungen, die ich gerne in der heutigen Nachbarschaft verbreiten möchte.
Dank der Kontakte anderer Frauen, die mit ihr schon lange oder länger in Beziehung stehen, die sie immer wieder begleiteten und im Austausch sind, erhielt ich ihre Telefonnummer und rief sie an. Heraus kam ein Besuch bei ihr zu Hause. Eine kleine Frau beäugte mich skeptisch, ließ sich mir meine Daten geben und führte mich in das Wohnzimmer. Es war eine sehr schöne Wohnung, wo alles seinen Platz hatte. Ich nahm für mich mit, dass Ruth Dräger einen klaren Blick auf die Dinge hatte und mit beiden Füßen im Leben stand. Das Gespräch drehte sich um das heute, aber auch um ihre Geschichte, wenn auch eher nebensächlich. So sehr ich neugierig war, es war ihr Leben und ihre Entscheidung, ob sie darüber spricht. Ich wollte zu hören. Mitgebracht hatte ich einen Blumenstrauß und ihr Abgangszeugnis der Israelitischen Töchterschule vom 30. Juni 1942.
Ich kannte ihren Namen bereits aus der Verlegung der Stolperschwelle für die Schülerinnen und Schüler der Israelitischen Töchterschule vor der Ganztagsgrundschule Sternschanze, die am 15. und 19. Juli 1942 von hier deportiert wurden. Von den 50 jungen Menschen waren es 13. Das ich damals „überlebt“ hinter ihren Namen geschrieben hatte, konnte ich mich noch erinnern. Aber am 15. Juli 2022 wusste ich es nicht.
Karin Guth hat sich in ihrem Buch “Bornstraße 22 – Ein Erinnerungsbuch” mit ihrem Aufwachsen in Nachkriegsdeutschland nach dem 1. Welt, dem Leben in der Weimarer Republik als jüdisches Kind, in der NS-Zeit, aber auch nach der Befreiung von Faschismus beschrieben. “Als Ruth 1928 geboren wurde, war Asta (ihre Mutter) noch zu jung, um die Verantwortung für die Erziehung ihrer Tochter aus sich zu nehmen. Deshalb schien das jüdische Kinderheim und Waisenhaus Paulinenstift, Laufgraben 37, für die große Familie (Geistlich) unter den schweren finanziellen Verhältnissen der beste Ort für das Kind zu sein. Dort wuchs Ruth Geistlich ganz in jüdischer Tradition auf. In diesem Kinderheim fühlte sie sich in den ersten 14 Jahren ihres Lebens sehr wohl.” Im Sommer 1928 wohnte die Familie Geistlich in der damaligen Elbstraße (heute Neandersteraße). Die Mutter von Ruth, Asta Geistlich, war am 13. März 1913 geboren. Asta Eltern, Ella und Paul Geistlich hatten neun gemeinsame Kinder. Bei ihnen wohnten auch noch zwei weitere Kinder von Ella, so dass bis zur Geburt von Ruth zeitweise elf Kinder zu ernähren waren. Später wohnte die Familie Geistlich in einer 3 ½ Zimmerwohnung in der Wexstraße 6..
Ruth Dräger erzählte mir in unserem Gespräch von ihrer “Rettung” durch ihren Opa Paul, der sie aus dem Waisenhaus im Laufgraben 37 abholte. Sie war für den Transport nach Auschwitz am 10. Juli 1942 vorgesehen. “Als Ruth zusammen mit den anderen Kindern auf Anordnung der Gestapo aus dem Mädchenwaisenhaus Paulinenstift am Laufgraben 37 in das Waisenhaus für Knaben am Papendamm 3 umziehen musste, unterrichtete ihn eine Erzieherin über ihre bevorstehende Deportation am 11. Juli 1942 nach Auschwitz. Daraufhin holte er seine Enkelin nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Waisenhaus ab, lud ihre Sachen samt Bettgestell auf eine Schottsche Karre und rettete somit ihr Leben. Weder die verbliebenen dreizehn Kinder noch die letzten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Waisenhauses überlebten die Deportation“, schrieb Susanne Rosendahl in ihrem Text über Familie Geistlich von den Hamburger Stolpersteinen.
Die Geistlich lebten bis Anfang 1942 noch in der Wexstraße 6, aber mit dem März-Beschluss der Gestapo von 1942 mussten auch die Geistlich aus der Wexstraße in ein “Judenhaus” ziehen, in die Bornstraße 22, um über sie auch die Deportationen organisieren zu können. Auf der Hamburger Hausmeldekartei zur Bornstraße 22 kann ich nur das Jahr entziffern, nicht das Datum.“
Zum 10. März 1943 erhielten Lieselotte, Esther und auch Asta Geistlich mit ihren beiden Töchtern Ruth und Dorrit ihre Deportationsbefehle nach Theresienstadt. Ursula Geistlich wurde am 5. Mai 1943 nach Theresienstadt verschleppt. Um ihre jüngste Tochter Vera nach Theresienstadt begleiten zu können, ließen sich Ella und Paul Geistlich scheiden. „Sie gab den Schutz einer „Mischehe“ auf, nur so konnte sie ihre Tochter am 9. Juni 1943 nach Theresienstadt begleiten, wo es ihr gelang die Familie zusammen zu halten“, schreibt Susanne Rosendahl. Paul blieb zuerst zurück in der Bornstraße 22, später zog er in die Roonstraße 44.
Asta Geistlich und ihre beiden Töchter, Ruth und Dorrit, ihre Schwestern Ester, Lieselotte, Vera und ihre Mutter Ella Geistlich überlebten Theresienstadt. „Kurt Geistlich“, so Susanne Rosendahl, „überlebte zwei Jahre Haft im Zuchthaus und sechs Jahre unmenschliche Lebensbedingungen in verschiedenen Konzentrationslagern wie Sachsenhausen, Groß-Rosen und Auschwitz-Birkenau.“
Ursula Geistlich und Werner Geistlich wurden von den Nazis ermordet, genauso die beiden Kinder von Ruths Oma, Ella Geistlich, aus ihrer ersten Beziehung, Rosa und Max, überlebten nicht. Ruth Geistlich Mutter, Asta, emigrierte 1949 mit ihrer zweiten Tochter, Dorrit, in die USA. Ruth lebte mit den anderen der Familie in die Kielortallee.
In meinem Gespräch mit Ruth Dräger, wie sie nach mit Hochzeit mit Willy hieß, ging es um ihr heutiges Leben und einen Besuch ihrer Mutter USA zu ihrer Mutter in San Diego. Es war sicher eine kurze Begegnung mit ihr. Ich saß für eine Stunde einer kleinen Frau gegenüber, die mich ja gar nicht kannte. Ihre Aufmerksamkeit zu meinen Fragen, ihre sehr bescheidene Art und vorsichtigen Erzählungen über ihre verschiedenen Lebenslagen nahm ich mehr großer Freude wahr.
Beim Verlassen ihrer Wohnung musste ich an Karin Guths Einschätzung denken: “Ruth Dräger ist eine Frau, die nicht aufgibt, sich in der Welt zu behaupten…. Sie kämpfte erfolgreich gegen eine schwere Krankheit. Sie lebt trotz vieler Enttäuschungen und mancher Benachteiligungen ohne Groll.”