Beim planen eines Stadtteilrundgangs am 9. September 2021 durch einige Ecken im Karolinenviertel wollte ich mir einige Stichworte zu den dortigen Zwangsarbeitslager für italienische Militärinternierten in der NS-Zeit aufschreiben. Die Faktenlage war sehr dünn, so dass ich nicht dachte, viel zusammen zu bekommen.
Ein Spickzettel, DIN A4 einmal gefaltet, war für meine Notizen für italienische Gäste der Nationalen Vereinigung der italienischen Militärinternierten (ANEI) angedacht. Einige Belege wollte ich noch beisteuern und begab mich auf die Suche. Wie bei allen bisherigen Recherchen, findet man zu Beginn eher wenig, dann fängt es langsam an, im besten Fall blättert sich eine Geschichte auf. Jetzt sind es mehrere geworden, die im Zusammenhang mit dem ANEI-Besuch vom 6. bis 19. September 2021 in Hamburg noch publiziert werden dürften.
Mit den italienischen Gästen treffen wir uns am 9. September 2021 um 16 Uhr vor der Glashüttenstraße 79. Jung von Matt hat hier heute seinen Unternehmenssitz. Eigentümerin ist die Sprinkenhof im Kontorhausviertel. Von hier gehen wir in die Flora Neumann Straße, gleich um die Ecke. Ihr Name ist mit dem Karolinenviertel eng verbunden. Sie lebte bis 2005 in der Karolinenstraße 4 und hatte zusammen mit ihrem Mann, Rudi, in den 1950er Jahren einen Waschsalon in der Marktstraße 15. Ihre Schwägerin, Theresa Neumann, wohnte in der Karolinenstraße 26, Haus 12. Einiges davon werde ich am 9. September 2021 erzählen. Die Geschichte der Flora Neumann ist von ihr selber und im Web beschrieben worden. Darauf und auf Akten im Staatsarchiv beziehe ich mich.
Wer war Flora Neumann?
Diese kleine Frau mit ihren 1,44 m, hatte mit ihrem Mann und Sohn Bernd den Holocaust überlebt. Sie war in KZ Auschwitz, er war im KZ Buchenwald und ihr Sohn in einem belgischen Versteck. Peggy Parnass schrieb einmal, dass sie die einzige jüdische Familie in Hamburg war, die die NS-Zeit zusammen überlebt hätten.
Flora Andrade war 1911 geboren und mit Rudi Neumann seit 1931 verheiratet. Nach dem neunjährigen Besuch der Israelitischen Töchterschule in der Carolinenstraße 35 fing sie noch eine weiterführende Ausbildung an. Sie sprach später von einer Kunstgewerbelehrzeit. Ihre Eltern befanden sich in einer sehr schwierigen Lage, so wurde ihr Vater zum Offenbarungseid gezwungen. Flora wollte ihren Eltern finanziell helfen. “So ging ich von einer Fabrik zur nächsten und fragte nach Arbeit. Es klappte in Bahrenfeld in der Wollspinnerei Semper“, schrieb sie 1997 in ihren Lebensaufzeichnungen, „Erinnern, um zu leben“.
Damals hatte die Familie Semper bereits nichts mehr der Sternwoll-Spinnerei zu tun. Seit 1927 gehörte sie nach verschiedenen Verkäufer zur Leipziger Wollkämmerei. „Ich arbeitete im Akkord. Meine Schwester (Paula) gab ihre Arbeit als Hausmädchen auf, da wir in der Fabrik besser verdienen konnten. So arbeiten wir fünf Jahre zusammen an derselben Maschine. Meine Eltern waren sehr unglücklich darüber, denn sie hatten mit ihren Kindern einmal andere Pläne gehabt.“ Sie organisierte sich bei den „Jüdischen Jungarbeiter” (JJA), die ein Jugendheim in der Johnsallee hatten. Hier redeten sie “über Glauben, über Menschenrechte, über das Leben der Arbeiterfrauen. … Ich nahm an einem Kurs teil über Karl Marx, das ‚Kapital‘, Engels und Hegels Dialektik.“ Sie erzählt weiter, dass sie das Leben nicht verschlafen wolle, „wenn ich auch manchmal nach der Arbeit todmüde war, so blieb etwas haften und ich verstand den Kampf der Arbeiterfrauen immer mehr.“
In der JJA lernte sie sich Rudi Neumann kennen. Er war 1907 in Hamburg geboren. Bis 1923 ging er auf die Talmut Tora Schule, danach begann er eine dreijährige Ausbildung bei der Firma C. Wilkens, konnte sie aber nicht beenden, da das Unternehmen Insolvenz anmelden musste. Ab 1927 war er für zwei Jahr bei Blohm &Voss und organisierte sich in der KPD. Wenn es mich auch empört, das im Rahmen eines Wiedergutmachungsvorgangs ein Schreiben des so genannten Verfassungsschutz zu finden war, so sagt es doch etwas für mich über die Haltung von Rudi Neumamn aus. Am 27. April 1927 wurde er wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt und am 2. April 1929 wegen Widerstandes mit vier Wochen Gefängnis verurteilt. Seit 1929 arbeitete er auch nicht mehr auf Werft. Er sicherte seinen Lebensunterhalt als ambulanter Verkäufer für Krawatten, Füllfederhalter u.a.m.
Flora Andrade und Bernd Neuman heiratet 1931 standesamtlich und auch in der Born-Synagoge. Mit der Machtübernahme der Nazis änderte sich ihr Leben. „Ich durfte als Jüdin seit 1933 sowieso nicht mehr arbeiten und wohnte zur Untermiete in der Rutschbahn auf einem Zimmer. Ich bekam von der Wohlfahrt Unterstützung”, schrieb sie in ihren Erinnerungen. Im Juni 1933 bis April 1934 saß Rudi in Fuhlsbüttel im Gefängnis, ohne Verfahren. In dieser Zeit wurde er misshandelt, u.a. wurde ihm auch das Nasenbein gebrochen. Er wurde für kurze Zeit freigelassen, aber ab Juli 1934 wurde er wieder festgenommen. Wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ wurde er zu einer Gefängnisstrafe vom 1.10.1934 bis 1.10.1935 verurteilt. Während der Gefängniszeit ihres Mannes kam der Sohn Bernd im Israelitischen Krankenhaus in der Eckernförder Straße, heute Simon von Utrecht Straße, zur Welt. Mehr schmunzelnd, erzählt sie später über den ersten Kontakt von Rudi und Bernd: “Als Berni zwei Monate alt war, fuhren wir ins Gefängnis nach Fuhlsbüttel. Rudi freute sich, aber Bernie schrie so, dass wir unser Wort nicht verstehen konnten. Ihm gefiel der Ort wohl nicht, wo sein Vater war. Das kann man verstehen.“ Nach dem Gefängnis arbeitete er wieder als ambulanter Verkäufer, konnte aber diese Tätigkeit später nicht mehr ausüben. In einem späteren Wiedergutmachungsverfahren in den 1950er Jahren schreibt sein Anwalt: „Ab November 1937 bekam er ein Berufsverbot als Händler, weil er Jude war.“
Im März 1938 sollte er verhaftet werden, floh aber nach Belgien, wo er am 9.4.1938 ankam. Flora konnte die Nazis täuschen und floh kurz später auch nach Brüssel, zu dem Zeitpunkt wohnte sie mit ihrem Sohn im Schlüterweg 8. In Brüssel lebten sie illegal, waren aber weiterhin im Widerstand gegen Hitler aktiv. Das Ehepaar wurde verraten. Rudi wurde am 10. Mai 1940 verhaftet und in einem Internierungslager in Südfrankreich festgehalten. Flora lebte weiter illegal in Brüssel, wurde aber im Oktober 1942 von den Nazis verhaftet, die seit 1940 in Belgien einmarschiert waren, und nach Auschwitz deportiert. Hier war sie in verschiedenen Lager untergebracht und musste Zwangsarbeit leisten. Dort wurde sie misshandelt, u.a. waren es medizinische Experimente, die sie Zeit ihres Lebens verfolgten. Sie überlebte nicht nur das KZ Auschwitz, sondern auch den Todesmarsch 1945 Richtung Westen in das KZ Ravensbrück und nutzte den Moment zur Flucht mit einer Freundin.
Rudi Neumann war bis 1942 in Südfrankreich interniert, danach kam er in verschiedene KZ: Laurahütte, Blechhammer, Groß-Ronen und Buchenwald. Bis auf Buchenwald wurde er überall zur Zwangsarbeit eingesetzt und erlitt dabei auch körperlichen Schäden.
Nach der Befreiung zog es Flora zu ihrem Sohn nach Brüssel. Rudi hatte den gleichen Gedanken und sie fanden dort wieder zusammen. Flora war schwerkrank aus Auschwitz zurück gekommen und kam in Brüssel 1945 in ein Erholungsheim der jüdischen Gemeinde. Wegen der schweren Schäden war sie fünf Jahre lang bettlägerig. Rudi fand Arbeit in einem jüdischen Waisenheim als Hausmeister bis Ende 1950. Bis zu ihrer Rückreise nach Hamburg im November 1951 war er ohne Arbeit und Einkünfte, aber sie konnten wenigstens mietfrei wohnen. Im Hamburg nahm Rudi seine Arbeit zunächst als ambulanter Händler bis 15. November 1954 wieder auf. Im Dezember 1954 machten beide in der Marktstraße 13/15 ein Waschsalon auf, den sie im Juni 1959 verkauften.
Mit dem Erlös machten sie das gleiche Geschäft in Horn, in der Weddestraße 1, wieder auf. Ihr Sohn Bernd übernahm die Verantwortung. Ab 1967 stieg Rudi ganz aus dem Geschäft aus und arbeitete bis zu seiner Rente wieder als ambulanter Händler.
Flora und Rudi Neumann waren Zeit ihres Lebens politisch aktiv. Peggy Parnass schrieb 1987 über ihre beiden Verwandten in der damaligen „Hamburger Rundschau“ zum 80. Geburtstag von Rudi: „Seit vielen Jahren treffe ich ihn auf Demos. Überall dort, wo er sich mit anderen für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen kann. Auf Ostermärschen, bei Diskussionen, Debatten und Vorträgen. Er wehrt sich gegen Polizeiwillkür, AKWs, Volkszählungen und Arbeitslosigkeit und kämpft für die Anerkennung aller Nazi-Opfer. Er fährt auch mehrfach im Jahr an Gedenktagen in die KZs.“ Er starb 1996.
Bis ins hohe Alter hat Flora an Hamburger Schulen als Zeitzeugin Tausende von Schülerinnen und Schüler über die Nazi-Zeit und ihre Greueltaten aufgeklärt. 2005 verstarb sie im Alter von 94 Jahren. 2010 wurde ein Teil der Grabenstraße zur Flora Neumann Straße umbenannt.
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