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Holger Artus

Über eine „arisierte“ Apotheke in der Fruchtallee 27, die den Krieg nicht überlebte

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An der Ecke Vereinsstraße/Ecke Fruchtallee befand bis 1943 die Hansa-Apotheke. 1910 hatte sie der jüdische Apotheker Paul Freundlich gekauft. Er wohnte mit seiner Familie im ersten Stock in der Fruchtallee 27, seine Frau Irma Beith hatte er 1921 geheiratet. Ihre Tochter Erika kam 1922 auf die Welt.

Vor kurzem habe ich die Tochter der Ehrlichs, Erika Estis, kennengelernt. Sie lebt seit Ende des 2. Weltkrieges in USA. 1938 hatte sie Deutschland über die Kindertransporte nach England verlassen. Tausende jüdische Kinder konnten damals über diesen Weg vor der Vernichtung durch die Nazis gerettet werden. Erika ist 99 Jahre alt und lebt in New York. Wir sprachen auf virtuellen Plattformen. Für sie war der Umgang damit sehr vertraut.

Sie erzählte von ihrer Kindheit: Ihrem Weg zur Schule mit der Straßenbahn an der Station Fruchtallee bis zur Rentzelstraße und von dort zu Fuss zur Karolinenstraße 35, der Israelitischen Töchterschule. Sie sprach von ihrem „geliebten Sternschanzenpark“, durch den sie auf dem Weg von der Schule nach Hause ging. Ihr Onkel, Heimann Freundlich, hatte ein Geschäft in der Agathenstraße 7. Seine Schwiegermutter wohnte im Jonas-Stift in der Agathenstraße 3. Die Straße und die Orte waren ihr gut in Erinnerung. Sie erzählte auch vom Glockenläuten der Christuskirche, was sie mit der Vergangenheit verbinde.

Während sie durch die Flucht überlebten, wurden ihre Eltern und deren Familienmitglieder von den Nazis ermordet. Paul und Irma wurden am 11. Juli 1942 nach Auschwitz deportiert. Dort verloren sich ihre Spur. Paul wurde 63, Irma 46 Jahre alt. Heimann und Meta Freundlich wurden am 8. November 1941 nach Minsk deportiert, sie waren zu diesem Zeitpunkt 59 bzw. 48 Jahre alt. Auch ihre Spuren verloren sich dort.

Als Paul die Apotheke übernahm, war der Antisemitismus in der Weimarer Republik tief verankert. Heute wird es angesichts der mörderischen Praxis der Nazis nicht groß thematisiert, wie es dazu kam, aber nach dem 1. Weltkrieg gab noch keine NSDAP. Es waren vielmehr politische Kräfte aus dem ehemaligen Kaiserreich, die davon sprachen, dass 1918 eine angeblich „Judenherrschaft“ in Deutschland errichtet wurde. Die (sozialdemokratische) Regierung paktiere mit den „verjudeten“ Feinden, den Westalliierten, dem internationalen Finanzkapital und dem jüdischen Bolschewismus. Das vorrangige Ziel sei die Versklavung und Vernichtung Deutschlands auf dem Weg zur jüdischen Weltherrschaft. Das international agierende Judentum sei hauptverantwortlich für die Niederlage Deutschlands, so die Argumentation der Antisemiten. 

Paul Freundlich erlebte schon in den ersten Jahren der Weimarer Republik diesen Antisemitismus in Deutschland. Astrid Louven erzählt auf den Seiten der Hamburger Stolpersteinen über eine Episode aus dieser Zeit: Die Kunden in der Nachbarschaft hatten seine Apotheke von Anfang an misstrauisch beäugt. Konnte man den Medikamenten trauen, die ein jüdischer Apotheker herstellte? Musste man nicht befürchten, vergiftet zu werden? Erst als der Pastor der Christuskirche, so die Bericht von Zeitzeugen, die sich ja direkt gegenüber der Apotheke befand, das Thema während einer Predigt ansprach, den jüdischen Apotheker als guten, verantwortungsvollen Charakter bezeichnete und die Gemeinde aufforderte, ihre Aversionen gegen ihn aufzugeben, verbesserte sich zunächst die Situation.

Im März 1936 erließ das Reichsinnenministerium eine Verordnung, nach der jüdische Apotheker zur Verpachtung ihres Betriebes verpflichtet wurden, was einem Berufsverbot gleichkam. Im August 1936 verkaufte Paul Fröhlich die Apotheke samt Inventar an den „arischen“ Apotheker Carl Hattenkerl aus Braunschweig. Dieser verkaufte 1941 die Apotheke weiter. Das Gebäude gibt es heute nicht mehr: 1943 wurde es, wie viele Häuser in Eimsbüttel von den Bombardements der Alliierten getroffen. So auch die einstige Apotheke von Paul Freundlich.

Erika Estis war lange in Besitz der amerikanischen Staatsbürgerschaft. 2020 erhielt sie auf ihren Antrag hin auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Urkunde wurde ihr vom deutschen Generalkonsul in New York, David Gill, im letzten August überreicht. In unserem letzten Gespräch sagt sie, dass sie es nicht mehr schafft, nach Deutschland zu kommen. Aber sie war öfters in ihrem Hamburg, ging auch durch ihren Schanzenpark. Die Hitlers seien besiegt, sagte sie. Deutschland, nicht mehr das Land, dass ihr einst so viel Leid zufügte und ihre Eltern ermordete.

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