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Holger Artus

Plötzlich landete ich bei einer Recherche zur NS-Zwangsarbeit in meiner Nachbarschaft

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Bei der Planung eines Stadtteilrundgangs durchs Karolinenviertel Anfang September 2021 zum Thema Zwangsarbeit habe ich noch nicht alles zusammen. Ich wollte eine Geschichte zur Zwangsarbeit im Wohngebiet recherchieren, gelandet bin ich am Ende bei in meiner Nachbarschaft, im Weidenviertel. Aus einer Geschichte wurden mehrere, über Räubkäufe und die Zwangsarbeit in der NS-Zeit.

Bisher gefunden hatte ich ein Unternehmen, dass im damaligen HEW-Heizwerk in der Karolinenstraße/Kampstraße italienische Militärinternierte (IMI) in die Kantine für ihre Handwerker einsetzte –  in der damaligen Kampstraße 57. Die Geschichte schreibe ich noch auf. Auch über die IMIs in der damaligen Volksschule Kampstraße 60, Ecke Glashüttenstraße habe ich einiges gefunden. Das Lager ist aber bekannt.

Eine Station mit den Gästen aus Italien sollen die damals direkt hinter der Schule gelegenen Häuser in der Glashüttenstraße 78/79 sein. Hier sollen bis 1945 sowjetischen Zwangsarbeiterinnen gelebt haben. Auf die schlimme Lage für die Verschleppten aus der Sowjetunion will ich bei diesem Rundgang gerne eingehen. Es wird viel zu wenig an sie erinnert, darüber erzählt. 

Mit den Gästen werde ich zur Glashüttenstraße 78/79 gehen und etwas erzählen. Heute gibt Jung von Matt als Unternehmensadresse die Glashüttenstraße 79 an. 78 ist aktuell ein leerer Platz, auf dem bis vor kurzem eine Kita war, die jetzt in die Räume der ehemaligen Volksschule Kampstraße 60 umgezogen ist. Die Kampstraße hat heute den Namen einer jüdischen Widerstandskämpferin, die den Holocaust überlebte und im Karolinenviertel überlebte, Flora Neumann. 

Sprechen werden ich dann aber nicht über die Zwangsarbeit und -lager im Karolinenviertel, sondern einen Raubkauf. Arnold Marcus war Mit-Inhaber des Drogerie-Großhandels, Krenzin & Seifert. Dem Unternehmen gehörten die Häuser zur Vorderseite der Glashüttenstraße 78/79 und die Hinterhäuser. 1938/1939 wurde er vom NS-Staat gezwungen, seine Eigentum zu verkaufen, an einen „Arier“. Juden sollten kein Eigentum mehr haben. Käufer war die Hamburger Regenmäntelfabrik Becker. Sie firmierte bis 1936 unter dem Namen „Harefa-Atlantic Regenmäntelfabrik Steinburg“, bevor deren Inhaber, Hans-Siegfried Steinberg, sein Eigentum ebenfalls an einen „Arier“ verkaufen musste.

Meine jetzige Recherche ergab, dass die Harefa-Atlantic in der Glashüttenstraße 78/79 keine Produktion hatte, sondern in der Bellealliancestraße 58, im Hinterhof, wie ein Bebauungsplan aus 1955 ihn aufgezeichnet hatte. Heute gibt es hinter den Häusern der Bellealliancestraße 54/56 kein Gebäude mehr. Jetzt befindet sich hier ein grüner Innenhof für die Mieter/innen an der Ecke der Bellealliancestraße und Fettstraße. 

Neue Unterlagen haben  jetzt ergeben, dass die  „arisierte“ Harefa-Atlantic seit dem 18. November 1942 bis zum Tag der Befreiung Hamburgs von der NS-Herrschaft am 3. Mai 1945, 50 sowjetische Frauen beschäftigte. Sie waren von den Nazis fast alle aus Kursk nach Hamburg verschleppt worden. Eine Angehörige einer ehemaligen Mieterin hatte mir die Woche die Geschichte ihrer Mutter erzählt. Sie drehte sich um die Lieder der sowjetischen Frauen, die man damals im Innenhof hören konnte und das sie ihnen heimlich Essen zugesteckt hätten. 

Heute erinnert an beiden Orten nichts an diese Geschichte. Das gilt für viele Orte aus der NS-Zeit in Hamburg. Am Ende wird man die Geschichte aufschreiben. Im September 2021, wenn die Corona-Pandemie uns nicht einen Strich durch die Rechnung macht, werde ich vor der Glashüttenstraße 78/79 stehen und über den Raubkauf erzählen, den italienischen Militärinternierten und sowjetischen Zwangsarbeiterinnen. Den Nachbarn in der heutigen Flora Neumann Straße werde ich etwas über den Anlass des Rundgangs und meinen Themen etwas erzählen, aber auch zu Flora Neumann. Die Unternehmen, die heute hier ihre Sitz haben, werden von mir angeschrieben werden. Eine Verwandte von Flora Neumann wird uns beim Rundgang begleiten. Meinen Nachbarn in der Bellealliancestraße 54/56/60/64 und der Fettstraße 36 werde ich etwas zu den sowjetischen Zwangsarbeitern in ihrem Innenhof erzählen, aber auch über die italienischen Militärinternierten der Firma Kohls, Neels & Co. in der Fettstraße 24/26. Zur harefa-Atlantic im Hinterhof Bellealliance Straße 58 ,dem Lager in der Glashüttenstraße 78/79 und den beiden Raubkäufen werde ich noch weiter recherchieren (müssen).

Unser Rundgang im September 2021 durchs Karolinenviertel geht nur zu ausgewählten Stationen aus der NS-Zeit. Er endet an diesem Tag in der Gedenkstätte der Israelitischen Töchterschule in der Karolinenstraße. Mir geht es auch an diesem Tag um die Dimension des Terrors der Nazis.

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