Um nachharschaftsnah für eine Kundgebung am 15. Juli 2020 vor dem Bahnhof Sternschanze zu werben, habe ich eine Reihe von Infos geschrieben, die jeweils nur um die Adresse eines NS-Opfers in den Häusern verteilt wurden. Wer da nicht wohnte, bekam nichts davon mit. Es sind 20-40 auflagige Infos.
Ein Gesamtblick zur Kundgebung und den Infos im Vorfeld gibt es auf dem Blog www.sternschanze1942.de. Hier der Wortlaut meiner Nachbarschafts-Info.
Zum 8. Mai 2020 hatten wir zwei Plakate und die Außenwände ihres Hauses geklebt und weiße Spuren auf den Gehweg malen. Wir wollten am 8. Mai 2020 anlässlich des 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands von der NS-Herrschaft ein Bild vermitteln, wo unsere Eltern oder deren Eltern befreit wurden – am Beispiel der Opfer. Die Spuren hatten wir vor 15 Häusern rund um die Weidenallee gemalt, so dass ein Bild der “Spuren-Suche” vermittelt werden sollte.
Während der Reinigung des Gehweges hatten wir mit Mietern aus Ihrem Haus so nette Gespräche, dass wir uns überlegt haben, etwas mehr über Ivan Andrade in der Bellealliancestraße 66 aufzuschreiben und Ihnen anbieten. Fiel ist das aber nicht, was wir im Staatsarchiv oder der Carl-von-Ossietzky-Bibliothek in der Uni Hamburg gefunden haben.
Ivan Andrade betrieb einen Pfeifen-Großhandel, Anna Andrade das Zigarrengeschäft – bis zum 14.01.1939 in einer Erdgeschosswohnung in der Bellealliancestraße 66. Ivan war am 11. August 1884 geboren. Bevor er sein Pfeifenhandel in den hinteren Räumen ausbaute, war hier eine Wäscherei. Die Nazis ließen 1938 einen ersten Kaufvertrag scheitern. Sie inhaftierten Ivan Andrade im Zusammenhang mit der Reichsprogrom-Nacht am 9. November 1938. Er wurde im KZ Sachsenhaus inhaftiert. An diesem Tag wurden in Hamburg alle Synagogen in Brand gesteckt und die jüdischen Geschäften zertrümmert. Im KZ wurde Ivan Andrade schwer misshandelt und seine rechte Niere verletzt. Er hatte im Folge Gelenk- brüche und konnte sich nur mit Gehhilfen bewegen. Anna Andrade war nach der Rückkehr von ihrem Mann in einer Tischlerei zur Zwangsarbeit ein-gesetzt. Ivan Andrade wohnte zusammen mit seiner Frau in der Bellealliancestr. 60.
Für sein Geschäft wurde ein „Treuhänder“ eingesetzt und sein Warenbestand „konfiziert“. Zu diesem Zeitpunkt betrug sein Warenbestand 405,84 RM. Die Andrades hatten noch Forderungen in Höhe von 1.304,50 RM. Als Ende Dezember 1938 Ivan Andrade aus dem KZ kam, besaß aber nichts mehr: Ihr Kassenbestand am 14.01.1939 lag bei 5,83 RM. Der Warenbestand wurde mit 27,95 RM angegeben. Das Zigarrengeschäft wurde von den „Ariern“ Emma Riebensahl und ihrem Mann weitergeführt, in die hinteren Räumen zogen sie ein.
Ivan Andrade starb am 6. Dezember 1946 an den Folgen der Misshandlungen im KZ.
In jeder Straße um die Bellealliancestraße finden sie Opfer des NS-Regimes
Egal, wo Sie sich in den Straßenzügen um die Bellealliancestraße bewegen, in jeder Straßen und vor mancher Hausnummer finden Sie Stolpersteine, die an die NS-Opfer erinnern. Es kommen immer weitere dazu, so kürzlich ein Stein, der an Ida Silberberg erinnert, die in der Vereinsstraße 54 lebt hatte. Es gibt noch mehr NS-Opfer in Ihren Straßenzügen als es Stolpersteine gibt. Die Menschen in ihrer Nachbarschaft waren Widerstandskämpfer, ob Kommunisten oder Sozialdemokraten (Vereinsstraße 7, 89, 59, Amandastraße 41). Sie wurden ermordet, weil sie krank (Fettstraße 1) oder Homosexuell (Vereinsstraße 39, Lindenallee 44) waren. Massenhaft wurden jüdische Menschen erst gemobbt, dann verfolgt, enteignet, in den Tod getrieben und im KZ ermordet (Vereinsstraße 7, Lindenallee 44, 24-30, Amandastraße 78, Altonaer Straße 63, Magaretenstraße 40, Bellealliancestraße 27). Es gab hunderte Zwangsarbeiter in Ihrer Nähe, die in Lagern festgehalten und tagsüber zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden (Schulterblatt/ Eimsbütteler Chaussee, Altonaer Straße). Ein ähnliches Bild könnte man für die Straßenzüge um die Weidenallee oder dem Schulterblatt zeichnen.