Auf dem Hamburger Ostermarsch 2015 wurde ich durch einen damaligen Mitschüler daran erinnert: Unsere Aktionen gegen den Sell-Erlass, in den 1970er Jahren Oberschulrat für, ich weiß nicht mehr, für was. Fast alle Hamburger Fachoberschulen, ich glaube bis auf die für Wirtschaft, konnten für einen Schulstreiktag 1974 gewonnen werden. Rund 1200 Schülerinnen und Schüler waren im Audi-Max, um sich gegen den Sell-Erlass zu wehren.
Was war der Sell-Erlass?
Die Klassenarbeiten sollten am Einzeltisch und nicht mehr wie bisher in der üblichen Sitzordnung geschrieben werden. Der Protest nahm seinen Ausgang in der FOS Uferstraße. Wir werten uns gegen diese Leistungsverschärfung. Das besondere am damals aufgebauten zweiten Bildungsweg war, dass sowohl junge Leute wie ich nach der 10. (Real)Schulklasse eine Chance für ein Studienplatz bekamen, aber auch Arbeitnehmer mit abgeschlossener Berufsausbildung wie auch Arbeitnehmer, die ihr Abitur nachholen wollten, um zu studieren. Es ging nicht darum, zu lernen wie man gehorcht, sondern wie man es schafft, seinen eigenen Weg zu gehen. 1974 war die Volljährigkeit mit 21 Jahren beendet worden. Auch wir „Jungen“ wollten anders, gewissermaßen auf Augenhöhe, behandelt werden. Der Sell-Erlass ging in eine andere Richtung, Disziplinierung und Unterordnung. Dass ließen sich die jungen Leute mit Ausbildung, aber auch ältere Erwachsene nicht gefallen. Es ist zwar 41 Jahre her und man neigt zur Verklärung, aber einige Erinnerung sind durch die Ostermarsch-Debatte wieder gekommen.
Unser Willi-Bredel-Club
Was war das damals für ein Gefühl, sich selber zu organisieren und zu bestimmen! Wir hatten als MSB Spartakus unseren Willi-Bredel-Club in der Bremer Reihe in Hamburg St.Georg. Montags war jeweils unser Mitglieder-Treffen und es wurden hier die notwendigen Absprachen getroffen. Wir hatten uns entschieden, diesen Erlass der Disziplinierung zum Thema zu machen, eine Klasse von uns hatten sich gegen Klassenarbeiten an Einzeltischen gewährt. Im Schülerrat der FOS Uferstraße hatten wir uns verständigt, eine Vollversammlung durch zuführen, diesmal nicht mit dem üblichen Flugblatt, sondern wir wollten während des Unterrichts kurz in den Klassenräumen erscheinen und eine Ansage machen. Es bedeutete auch, dass die Lehrer/innen unsere Anwesenheit tolierten, was bei uns überall der Fall war. Auch das eigene Fernbleiben vom Unterricht wurde nicht groß problematisiert.
Die überschulische Koordination der einzelnen Schülervertretungen fand über unseren FOS Fachausschuss statt. Wir hatten im Fachausschuss eine Verständigung erzielt, dass wir den Sell-Erlass zum Thema machen. Dazu gehörte auch die Entscheidung, dass wir einen Streik organisieren. Die Schulen, die nicht bei unseren Sitzungen des Fachausschusses dabei waren, wurden schnell ausgemacht und über Flugblätter informiert. Die Flugblätter hatten wir mit unseren Mitteln im Willi-Bredel-Club produziert. Matrizen, Schreibmaschine, Text und ab ging die Post. Ich kann mich noch erinnern, wie ich während der Verteilung der Flugblätter in zwei Klassen eingeladen wurde und zusammen mit dem Lehrer über den Anlass und den Streik gesprochen hatten. Einmal war das eine FOS in Harburg und einmal bei den Anthropologen am Berliner Tor. Es war das erste Mal, das ich mich alleine einer Diskussion stellen und argumentieren musste – und die Leute mehrheitlich auch überzeugte.
Der Streiktag
Der Streik, das war eine Versammlung im Hamburger Audi-Max. Wir trafen uns hier, gewissermaßen wie die „großen“ Studierenden. Es war ein tolles Gefühl, das Audi-Max zu betreten und zu sehen, wie es sich fÜllte. Die Regie hatten wir uns in unserem Willi-Bredel-Club überlegt. Wir hatten z.B. extra einen Song eingeübt und zu Beginn vorgetragen. Auch erinnere ich mich, dass wir unmittelbar vor Beginn der Streikversammlung feststellten, dass wir zu wenig „richtungsweisende“ UnterstÜtzung hatten, also wurde ich losgeschickt, einige Grußworte des ASTA der Uni Hamburg zu besorgen. In den damaligen Räumen, einer Holzbaracken, ging ich von Tür zu Tür, bis ich beim Referat für Auslandfragen/Internationalismus landete. Es kostete etwas Mühe, den damaligen Kollegen zu gewinnen, aber am Ende gingen wir beide ins Audi Max und es gab die Grußworte. Wir wurden auch von den Großen akzeptiert. Unsere Linie, sich auf den Anlass, eben den Sell-Erlass zu konzentrieren, fand die Unterstützung der Teilnehmer/innen.
Was wurde aus dem Sell Erlass?
Nach unseren Protesten wurde er noch nicht zurÜckgenommen, aber bei der Gretchen-Frage passierte es am Ende dann doch: wie verhalten, wenn eine Klassenarbeit unter Abiturbedingungen geschrieben wird? Meine Klasse, aber auch andere hatten sich geweigert, die Tische auseinander zu schieben. Damit war die Sache im Prinzip aber erledigt, denn das wollte man auch nicht in der Schulbehörde. Heute dürrften Klassenarbeiten an Einzeltischen geschrieben werden, damals war es nicht gewollt.
Und?
Das heutige Gespräch auf dem Hamburger Ostermasch 2015 erinnerte mich daran, dass ein Thema seiner Einschätzung bedarf, die zu vermitteln ist, dass Strukturen und einer Verständigung auf Losungen erforderlich sind. Zu diesen Strukturen gehörten die einfachen Dinge wie eine Gestettner-Druckmaschine und deren eigenständige Bedienung. Ohne unsere Verständigung und Absprachen im Willy-Bredel-Club wäre nichts aus unseren Aktionen geworden, denn es hätte sich niemand von sich aus gegen schlechtere Rahmenbedingungen bei Klassenarbeiten gewehrt.