Ansichten

Holger Artus

Grete und Ferdinand Nussbaum, Neuer Pferdemarkt 32

| Keine Kommentare

An die heutigen Mieter:innen um den Neuen Pferdemarkt 32/Neuer Kamp habe ich eine Information verteilt, um an Menschen zu erinnern, die hier bis 1939 gelebt hatten und Opfer des NS-Systems wurden.

Am neuen Pferdemarkt 32 lebte bis Mitte 1939 Ferdinand Nussbaum mit seiner Tochter Gretchen. Damals befand sich die Nummer 32 im Hinterhaus, das drei Etagen hatte. Die Familie wohnte seit 1907 im obersten Stockwerk.

Warum möchte ich Ihnen etwas über die Familie Nussbaum erzählen?

Die Nussbaums gehörten zu den jüdischen Menschen, die in der NS-Zeit verfolgt, vertrieben, deportiert oder ermordet wurden. Gretchens Geschwister Auguste (geb. 1898), Siegfried (geb. 1899), Paula (geb. 1901), Thea (geb. 1909) und Hans (geb. 1911) hatten bereits eine eigene Familie bzw. Wohnung. Auguste, Siegfried und Paula wurden mit ihren Familien 1941 deportiert und ermordet. Thea und Hans konnten emigrieren. Hans in die Niederlande, das 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde. 1943 gehörte er zu den wenigen, die aus dem Lager Westerbork/Niederlande fliehen konnten. Ihre Mutter Ida war bereits in Hamburg verstorben.

Warum wende ich mich an Sie?

So sehr in unserer heutigen Gesellschaft die NS-Verbrechen nicht vergessen werden, so wenig ist uns bewusst, dass der Terror auch Menschen betraf, die einst in unserer direkten Nachbarschaft wohnten. Diese Wissenslücke möchte ich mit dieser Information schließen. Es geht mir nicht um die Frage, ob wir „Schuld“ hätten. Das kann gar nicht sein, wir leben heute. Wir leben in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat. 

Über Grete Nussbaum

Gretchen (Grete) Nussbaum wurde am 4. November 1904 geboren. Ihr Vater Ferdinand war Auktionator und hatte seine Geschäftsadresse in der Eimsbütteler Straße 38, heute Budapester Straße 38. Grete besuchte bis 1918 die Israelitische Töchterschule in der Karolinenstraße 35, in der sie ihren Realschulabschluss machte. Von 1919 bis 1922 absolvierte sie eine kaufmännische Lehre im Unternehmen ihres Vaters und arbeitete dort anschließend weiter.

Mit der politischen Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und den anderen Rechtsparteien verschlechterte sich die Lage der jüdischen Bevölkerung dramatisch. Neben den antisemitischen Kampagnen wurden Juden:innen zunehmend staatlich ausgegrenzt, verfolgt und kriminalisiert. 1936 konnte Grete noch eine Zusatzqualifikation bei der Handelskammer erworben, die ihr erlaubte, einen Gewerbeschein für ein Möbel- und Haushaltswarengeschäft zu beantragen. Am 15. Mai 1936 erhielt sie den Schein und eröffnete ihr Geschäft in der Eimsbütteler Straße 38 im Erdgeschoss rechts. Offenbar wurde die Lizenz ihres Vaters nicht verlängert,  da er ab 1937 nicht mehr als Auktionator tätig war. 

1937: Verhaftung und Inhaftierung im KZ

Der Erfolg ihres Geschäfts war nur von kurzer Dauer. Im September 1937 wurde Grete in ihrem Unternehmen verhaftet und im Gefängnis an der Straße „Hütten“ in der Hamburger Neustadt inhaftiert. Ein Gericht verurteilte sie wegen „Rassenschande“ zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis. Die sogenannten Nürnberger Rassengesetze von 1935, insbesondere das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, kriminalisierte Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Judeninnen. Unter diesem Vorwand wurden zahlreiche Menschen verfolgt, öffentlich bloßgestellt, inhaftiert und „bestraft“.

Nach ihrer Verurteilung wurde Grete vom Gefängnis Hütten ins KZ Lichtenburg bei Torgau überstellt. Im April/Mai 1938 kam sie ins KZ Ravensbrück. Nach dem Ende ihrer Haftzeit im Februar 1939 erhielt sie die Auflage, Hamburg zu verlassen. Andernfalls drohte ihr eine erneute Verhaftung.

Flucht und die tödlichen Folgen der deutschen Besatzung in den Niederlanden

Grete floh ins niederländische Wieringermeer. Ihr gesamtes Hab und Gut musste sie in Hamburg zurücklassen. Bereits während ihrer KZ-Haftzeit, am 3. Mai 1938, war ihr der Gewerbeschein entzogen worden. Ihr Vater, Ferdinand, floh nach ihr ebenfalls in die Niederlande, da die Nazis ihn massiv bedrohten. Er starb am 20. Mai 1940, kurz nachdem die deutsche Wehrmacht die Niederlande im April 1940 besetzt hatte. Die jüdische Bevölkerung in den Niederlanden war nun der gleichen Verfolgung ausgesetzt wie in Deutschland. Von den etwa 140.000 wurden 107.000 deportiert, wovon 102.000 in Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet wurden – die höchste Opferquote in Westeuropa.

Deportation und die Befreiung

Grete heiratete in den Niederlanden Gerd Cohen, dessen Familie frühzeitig vor den Nationalsozialisten geflohen war. Am 20. Juni 1943 wurden Grete und Gerd in Amsterdam verhaftet und ins Durchgangslager Westerbork deportiert. Am 4. September 1944 wurde Grete nach Theresienstadt/Terezin bei Prag überstellt. Gerd wurde wenige Tage später nach Auschwitz deportiert und im Außenlager Golleschau ermordet.

Grete überlebte Theresienstadt und erlebte dort im Mai 1945 die Befreiung durch die Rote Armee. Nach schwerer Krankheit zog sie zunächst in die Niederlande, später kurzfristig in die USA, bevor sie in den Niederlanden eine neue Familie gründete.

Schreiben Sie einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.