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Holger Artus

Wenn Ihre Kinder 12 sind, müssen sie sterilisiert werden!

Christian St. war einer der 13 Sinti und Roma, die im Frauenkrankenhaus des AK Altona in der Bülowstraße 9 Ende 1944/Anfang 1945 zwangssterilisiert wurden. In den Akten zu den 13 Personen aus dem Hamburger Staatsarchiv habe ich kein Schreiben gefunden, in dem das Wort „Entschuldigung“ vor kommt.

Hunderte Seite sind aber voll mit rassistischen Beleidigungen und Beschimpfungen, Drohungen gegen NS-Verfolgte auch nach 1945. Manch Schreiben staatlicher Stellen sind übelster Natur, um den Menschen ihre finanziellen Rechte vorzuenthalten.

Zu den einzelnen Personen werde ich noch Nachbarschaftshilfe-Info in deren heutiger Nachbarschaft verteilen. Am 11. November 2024 soll es um 17 Uhr eine Kundgebung vor dem ehemaligen Krankenhaus geben, um an die 13 zu erinnern.

Am 15. Februar 1945 wurde Christian St. in der Bülowstraße 9 im Frauenkrankenhaus des AK Altona körperlich misshandelt. Vorher musste er sein Einverständnis zur eigenen Sterilisation sowie zur Sterilisation seiner Kinder erklären, wenn sie das 12. Lebensjahr erreicht hätten. Reginald war 1945 gerade 11 Jahre alt, Regina 7. Dazu kam es nicht, Hamburg wurde am 3. Mai 1945 befreit. 

Christian St. kämpfte 30 Jahre lang um seine Entschädigung. Immer wieder wurde er durch staatlich Stellen rassistisch beleidigt, von Ämtern und Gerichten aufgrund rassistischer Motive finanziell benachteiligt und seiner Menschenrechte beraubt. Allen anderen der 13 Zwangssterilisierten erging es nach 1945 ebenso.

Von Beruf war er Musiker, lebte mit seiner Partnerin,  Emma St. und ihren Kindern im Barmbeker Heinskamp in einer 4-Zimmer-Wohnung, nahe dem Eilbekkanal.

Am 16. Mai 1940 wurde die Familie von der Polizei abgeholt. Sie musste drei Tage unter unmenschlichen Bedingungen im Fruchtschuppen C im Hamburger Freihafen ausharren, bevor sie über den Hannoverschen Bahnhof ins besetzte Polen nach Belzec deportiert wurden.

Am 20. Mai 1940 wurden fast 1.000 Sinti und Roma von Hamburg in den Osten deportiert.

Auch seine Mutter und seine sechs Geschwister wurden damals verschleppt.

Im Dezember 1940 wurde Christian St. zur deutschen Wehrmacht einberufen und kam deswegen nach Hamburg zurück. Seine Partnerin und die Kinder kamen ebenfalls nach Hause.  Ihre Wohnung im Heinskamp war zwischenzeitlich von anderen Menschen bewohnt und ihr gesamter Haushalt war verschwunden. Allerdings wurde er nicht mehr zur Wehrmacht eingezogen, da inzwischen ein Befehl erlassen worden war, dass Sinti und Roma nicht mehr einberufen werden sollten. Nach eigenen Angaben fand er in den ersten Monaten eine Anstellung als Fahrer in der Baufirma Willi Brümmer. Bis zur Befreiung wurde er als Zwangsarbeiter in Hamburger Unternehmen eingesetzt.

Ein „Befehl des Reichsführers-SS“ aus dem Jahr 1943 regelte weitere Deportationen der Sinti und Roma. Sie sollten alle nach Auschwitz verschleppt werden. Dieses rassistische Dokument beschäftigte sich unter anderem mit dem Umgang von Kindern, deren Familien noch nicht deportiert worden waren. „Die Einwilligung der über 12-jährigen, noch nicht sterilisierten Personen, ist anzustreben“ hieß es im Dokument. Bei einer Weigerung lag die Entscheidung bei der zuständigen Kriminalpolizeileitstelle in Hamburg. Der Zweck des Befehls lautete: „Die Einweisung erfolgt ohne Rücksicht … familienweise in das Konzentrationslager Auschwitz.“

Als Christian St. gezwungen wurde, sich im Frauenkrankenhaus sterilisieren zu lassen, musste er sein Einverständnis erklären. Doch der zuständige Kriminalbeamte, Paul Everding, war damit noch nicht zufrieden. St. musste auch der Sterilisation seiner Kinder zustimmen, sobald diese 12 Jahre alt würden.

Dazu kam es jedoch nicht. Am 3. Mai 1945 wurde Hamburg von der britischen Armee befreit. Drei seiner Geschwister kehrten nach Hause zurück, seine Mutter und zwei seiner Schwestern wurden von den Nazis ermordet. Seine eigene Familie überlebte.

Die Kriminalbeamten Krause und Everding wurden von der britischen Verwaltung in Hamburg zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.

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