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Holger Artus

Ich bin die Tochter von Henny …“ – Lilly Lindenborn schreibt 1944 aus Terezin nach Hamburg

Am 16. Januar 1944 schreibt Lilly Lindenborn eine Postkarte aus dem Getto in Terezin/Theresienstadt nach Hamburg. Sie war am 18. Juli 1943 gerade 15 Jahre geworden. Mit ihren Eltern, Hertha und Oskar Rosenstein war sie am 19. Juli 1942 über die Schule Schanzenstraße nach Terezin/Theresienstadt, in der Nähe von Prag, deportiert worden. Sie überlebten den Holocaust nicht. Die Familie wohnte bis 1942 in der Isestraße 89, im Erdgeschoss.

Es ist eines der letzten bekannten Lebenszeichen von ihr. Am 6. Oktober 1944 wurde sie mit ihrer Mutter und deren Mann ins KZ Auschwitz verschleppt. 

Zur Postkarte vom 16. Januare 1944

Lilly schrieb an Fritz Katz, „Bornstraße 22 oder Dillstraße 15“ (hier war der Sitz der noch in Hamburg verbliebenen jüdischen Gemeinde). Sie schrieb: „Lieber Dr. Plaut. Sie wissen wohl, wer ich bin, die Tochter von Schwester Henny. Da ich auf meine Post an meine Tante Bella H …. , die Bornstraße 16 gewohnt hat sowie von Elisabeth Hänsch, Eilenau 123, keine Antwort auf meine Post zurück bekomme, bitte ich Sie herzlichst,  noch mal nachzufassen, woran es liegt. Meine Mutti hat vor weniger Zeit Frau Emma Levy …, ist aber bis heute ohne Nachricht.  Unsere Kleinen waren jetzt 6 Wochen krank, sind wieder zu Hause. Für das letzte… Paket mit Fisch und Trockengemüse danken wir herzlichst. Vielen Dank und herzliche Grüße von allen. Lilly“. Viele Indizien sprechen dafür, dass der Brief von ihrer Mutter geschrieben wurde. Sie kümmerte sich in Terezin mehrere Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden oder Waisen waren. Ellen Glück, eine andere Bewohnerin im Kinderhaus, schrieb in einer anderen Postkarte auch von „Schwester Henny“.

Post aus Terezin wurde zensiert 

Im Hamburger Staatsarchiv liegen über 250 dieser Postkarten aus Terezin/Theresienstadt an Personen in Hamburg. Es sind Lebenszeichen an diejenigen, die noch in Hamburg lebten, die noch nicht deportiert waren oder wo die Absender:innen nicht wussten, was aus ihren Angehörigen und Verwandten geworden war.  Sie konnten die Garnisonsstadt Terezin, damals Theresienstadt, nicht verlassen, eine Kommunikation mit der Außenwelt war nicht möglich. Im Laufe der Zeit war eine Postverkehr unter bestimmten Bedingungen möglich. Einmal in drei Monaten durfte z.B. auf einer vorgedruckten Postkarten geschrieben werden. Was geschrieben wurde, war durch die Gestapo geregelt, die Postkarten Unterlagen einer mehrfachen Zensur. Einmal in Terezin, aber auch durch die Gestapo in Berlin, von wo alle Postkarten aus Terezin geschickt  wurden. Von dort wurden sie an die Empfangs- adressen weitergeleitet. Offenbar war es eine der Bestimmungen für Hamburg, dass Postkarten aus Terezin nicht direkt, sondern über die verbliebenen Personen der jüdischen Gemeinde in Hamburg geschickt werden mussten, zumindest lassen es die Postkarten im Staatsarchiv vermuten. 

Die in der Postkarten erwähnte Elisabeth Hänsch (und ihr Mann) war 1947 in die USA emigriert. Bei den beiden anderen Frauen ist die Recherche nicht abgeschlossen.

Wer war Lilly Lindenborn?

Lilly Lindenborn wurde am 18. Juli 1928 in Hamburg geboren. Ihre Mutter, Hertha „Henny“ Klyszcz (geboren am 22. November 1903) war mit Leopold Lindenborn verheiratet (geboren am 7. Juli 1889). Sie lebten zusammen in der Isestraße 83. Das Paar trennte sich und Hertha zog 1935 mit ihrer Tochter Lilly in die Isestraße 89, wo ihre Mutter, Rosa Klyscz, im Erdgeschoss wohnte. Leopold Lindenborn, der Ex-Partner heiratete wieder und konnte mit seiner neuen Partnerin in die USA emigrieren, bevor die Deportationen begannen. Hertha heiratete im Mai 1940 Oskar Rosenstein (geb. 1897), zusammen mit Lilly wohnte die neue Familie in der Isestraße 89.

Seit März 1942 wurden alle jüdischen Bewohner:innen Hamburgs gezwungen,  in so genannte Judenhäuser zu ziehen.  Es handelte sich um ehemalige Wohnstifte der Gemeinde, die die Nazis zu Massenunterkünften umfunktionierten hatten und über die die Deportationen abgewickelt wurden. Lilly, Hertha und Oskar mussten von der Isestraße 89 am 14. März 1942 in den Warburg-Stift in der Bundesstraße 43 ziehen. Vor diesem Gebäude erinnert heute ein Stolperstein an Lilly Lindenborn und eine Tafel an die Geschichte des Hauses.

Am 19. Juli 1942 wurde die Familie über die in der Nähe gelegene Schule Schanzenstraße nach Terezin/Theresienstadt deportiert. Die drei wurden am 6. Oktober 1944 von Terezin ins KZ Auschwitz verschleppt und ermordet. Lilly ging bis Mai 1942 in die Israelitische Töchterschule in der Karolinenstraße 35. Am  14. Mai 1942 wurde die Schule geschlossen. 13 der Abgangs-Schüler:innen wurde wie Lilly am  19. Juli 1942 über die Schule deportiert. Eine Stolperschwelle vor der heutigen Ganztagsgrundschule erinnert an sie.

Am 12. Juli 2024 erinnern wir an die Massendeportation vom Juli 1942 über die Schule

Am 15. und 19. Juli 1942 wurden nicht nur die drei, sondern insgesamt über 1.500 Menschen über die Schule nach Terezin deportiert. Aus diesem Anlass findet am 12. Juli 2024 um 17 Uhr eine Kundgebung auf dem Schulgelände statt, um an die Menschen von damals zu erinnern.  Seit einigen Jahren wir aus Anlass des Jahrestags daran erinnert Es geht nicht um die Frage, ob wir „Schuld“ haben. Das kann nicht funktionieren, da wir damals nicht gelebt haben. Man kann aber auch aus systematischen Gründen nicht auf „Schuld“ setzen. Der Gedanke der Verantwortung, zu erinnern, um so einen Beitrag zu leisten, dass sich das nicht wiederholen darf, trifft es schon eher. Vielleicht sehen wir uns ja?

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