Am 16. September 1943 kam Augusto Costantini im Kriegsgefangenen-Stammlager in Sandbostel an. Er war einer von hunderttausenden kriegsgefangenen italienischen Soldaten in Deutschland. Anfang September 1943 hatten sie sich geweigert, weiter an der Seite Nazi-Deutschlands in den Krieg zu ziehen.
Vor der Einberufung zur italienischen Armee war er Student. Geboren war er am 13. Dezember 1923 in Marcette in der Region Marken. Heute zählt die Stadt 41.0000 Einwohner:innen (2019). Der damals 19-Jährige wurde am 9. September 1943 von der deutschen Wehrmacht in Ljubljana in Slowenien gefangengenommen. Die italienischen Soldaten marschierten von dort mehrere Tage zu Fuß nach Österreich. Angekommen, wurden sie zu jeweils 60 Personen in die Waggons der deutschen Reichsbahn gestopft und in die verschiedenen Kriegsgefangenen-Stammlager nach Deutschland verschleppt. Nach der Ankunft am Bahnhof in Bremervörde/Niedersachsen ging es noch einmal weiter zu Fuß in das entfernte Kriegsgefangenen-Stammlager Sandbostel.
Am 10. Dezember 1943 wurde er nach Hamburg verlegt. “Diesmal zeigte ein Nazi auf einige von uns, einen nach dem anderen. ‘1, 2, 3, 4, 5… Da lang’, schrieb er in seinen Erinnerungen auf. “Dreißig Menschen sind aufgereiht, getrennt von ihren Kameraden warten sie auf ihr Schicksal mit gesenktem Kopf. Wir wissen, dass jeder Widerstand, jede Frage, nutzlos ist. Ich gehöre zu ihnen, wir sind alle Italiener.” Die italienischen Militärinternierten werden auf einen Lastwagen gebracht. Sie sollen als Zwangsarbeiter in Hamburger Unternehmen eingesetzt werden. “Sie holen uns mit den üblichen hastigen Methoden ab. Nach ein paar Stunden kommen wir in Hamburg an. Wir sollen in einer Fabrik arbeiten, in der sich unser Lager befindet. Das Lager besteht aus einer Baracke, die von Stacheldraht umgeben ist.”
Die Ruberoid AG am Billbrookdeich 45 hatte die IMIs beim Wehrmachtskommando X B in Sandbostel angefordert. “Die Fabrik stellte Rollen von Teerpapier und Linoleum Laminaten her”, erzählte Augusto in seinen Erinnerungen. Sie mussten alles machen, was anfällt. “Wir luden den Sand von den Lastkähnen; wir bereiteten die Mischsandhaufen vor, gemischt mit Farbe, zum Färben des Linoleums.” Das Be- und Entladen von Güterwagen, die über die Hamburger Hafenbahn direkt ins Unternehmen kamen, fand mehrmals täglich statt. “Die Lagerhallen, in denen wir arbeiten, waren 100 Meter von der Bahnlinie entfernt. In unserer Baracke gab es Tische, Hocker, einen alten Holzofen und ein Waschhaus mit zwei Ausgüssen, in dem wir uns jeden Morgen waschen konnten. Wir schliefen auf Holzbetten, die wir mit Jutesäcken aus den Abfällen des Linoleums etwas weicher gemacht hatten. “Um sich in der Fabrik zu bewegen, brauchte man einen Ausweis, den jeder von uns auf der Brust tragen musste. Morgens um 6 Uhr war der Zählappell, die Arbeit in der Fabrik endete um 18 Uhr in der Fabrik, gerade noch rechtzeitig für den letzten Zählappell des Tages,“ vermerkte er. Ihre Lebensbedingungen im Zwangsarbeitslager waren sehr schlecht. „Das Essen war immer knapp: Der Hunger, dieser besondere Hunger, quält uns ständig. Unser physisches Erscheinungsbild zeigte deutlich unser Leiden. Wir aßen alles, was wir finden können, wenn wir es überhaupt finden können: Kartoffelschalen, Radium, Gras, das in einigen Regionen überlebt. Wir saugten Eiszapfen vom Dach.“ Aber ihre Kleidung war sehr schlecht. Im Winter hatten sie weder geeignete Kleidung noch Holz, um den Ofen in der Baracke zu befeuern.
Ruberoid meldete im September 1944 dem Hamburger Arbeitsamt 27 italienische Militärinternierte, die bei ihnen arbeiten mussten. Ihr Arbeitskommando trug die Nummer 1240.
Hintergrund war, dass ab September 1944 die IMI nicht mehr von der deutschen Wehrmacht bewacht wurden. Das Unternehmen musste aber melden, wenn sich die IMI nach ihrer Auffassung „nicht richtig“ verhielten. Der Alltag verbesserten sich etwas, aber die Lebens- und Arbeitsbedingungen waren weiterhin schwer. Selbst wenn sie als „freie Zivilarbeiter“ bezeichnet wurden, mussten sie ab 20 Uhr im Lager sein und konnten sich faktisch nicht frei bewegen. Finanzielle Mittel hatten sie keine, aber es gab immer einen gewissen Schwarzmarkt über die französischen Zwangsarbeiter.
Augusto Costantini erzählte 2001 Schülerinnen und Schülern der Schule Tonileo in Treviso, warum er im Dezember 1944 vom Zwangsarbeitslager von Ruberoid ein KZ-ähnliches Straflager, ein so genanntes Arbeits-Erziehungslager (AEL), verschleppt wurde. „Eines Tages wurde ein Zug bombardiert, der den Deutschen Essen bringen sollte. Er wurde zerstört und das Essen in Stücke gerissen. Alles, bis auf einen 25-kg-Sack Kartoffeln, war noch intakt. Die Gefangenen waren so hungrig; einer von uns hatte diesen Kartoffelsack genommen und noch am selben Abend hat er einen Teil gekocht und gegessen. “ Dafür wurden sie aber denunziert und der Gestapo gemeldet. Sie kamen ins Lager und sagten ihm, dass er bestraft würde, wenn er die verantwortliche Person nicht innerhalb von 24 Stunden anzeigen würde. Da er seinen Kameraden nicht verriet, wurde er von der Gestapo verhaftet. Die brachte ihn in das Arbeits- und Erziehungslager (AEL) in der Nähe von Hamburg.
Da das NS-Regime jede Arbeitskraft brauchte, sollte die Haftzeit auf maximal 56 Tage begrenzt werden, danach dem Betrieb wieder zur Verfügung stehen und den anderen als abschreckendes Beispiel dienen. Im AEL Nordmark z. B. wurden sie mit einem Becher Ersatz-Kaffee, etwas trockenem Brot und einer dünnen Suppe pro Tag versorgt. Die ungeheizten Baracken waren für je 200 Insassen ausgelegt. Geschlafen wurde auf nackten Brettern in doppelstöckigen Holzgestellen mit je nur einer Wolldecke pro Person. Die Waschräume wurden nicht mehr fertiggestellt, und als Toiletten dienten offene Kübel in den Baracken und einige Latrinen. Der Tag im Lager begann jeden Morgen um 5 Uhr. Getrennt nach Deutschen und Ausländern mussten die Häftlinge zum Appell antreten. Rund zehn Stunden lang hatten die Häftlinge besonders schmutzige, schwere oder gefährliche Arbeiten zu verrichten: Im Lager bauten sie weitere Baracken, planierten Wege oder schaufelten bis zum Umfallen in der Kiesgrube auf dem Gelände. Außerhalb des Lagers wurden sie beim Bunkerbau in Schulensee und am Schützenwall eingesetzt, räumten Trümmer im zerbombten Kiel oder entschärften und bargen Blindgänger.
Augusto Constantini erzählte bei seinem Schulbesuch später darüber, wie schikanös er behandelt wurde. „Die Arbeit bestand darin, den Sand aus dem Bereich des Flusses zu schaufeln, der während der Flut vom Wasser überflutet wurde. In den sechs Stunden Ebbe war diese Arbeit möglich und die Arbeiter erledigten sie, in den sechs Stunden Flut wurden die Verurteilten zu einer unmöglichen Arbeit gezwungen: Schultertief im Wasser eingetaucht, mussten sie den Sand aus dem Wasser räumen.“
Später wurde, weil er am Verhungern war und seine Arbeiten nicht mehr ausführen konnte, zur „Strafe“ in Einzelhaft gesteckt. „Es war ein kleiner Raum von der Größe eines Sarges, aber im Vergleich dazu enger und ungemütlicher. Du musstest stehen; selbst wenn einer ohnmächtig wurde oder einschlief, waren die Wände der Zelle so dicht, dass er nur stehen konnte. In jeder Zelle war ein Loch in der Tür, durch das Luft und Licht strömten. Das Leiden von Signor Costantini wurde noch grausamer, als der Deutsche durch das gewaltsame Schließen der Tür den Riss der Membran seines Trommelfells verursachte und er spürte, wie Blut aus seinem Ohr tropfte.“
Die Befreiung Deutschland vom Faschismus erlebte Augusto Costantini im Krankenlazarett eines AEL, dessen genauer Standort auf der Basis seiner Erzählungen nicht zu identifizieren ist. Es gab über 200 AEL in Deutschland. In Hamburg gab es das AEL „Langer Morgen“ und in Kiel des AEL „Nordmark“. Er starb im Alter von 96 Jahren in Treviso.
Silvia Pascales und Orlando Materassi von der ANEI erinnern sich gerne an ihn: „Augusto sagte immer, dass er diese Menschen und auch andere Deutsche, die ihm in dieser Zeit geholfen hatten, nie vergessen würde. Costantini erinnerte sich ruhig, aber traurig an diese Ereignisse. Obwohl er die schlimmsten Gräueltaten mit eigenen Augen gesehen hatte, obwohl er die Angst hatte, zu sterben, nie wieder nach Italien zurückzukehren, obwohl er unter echtem Hunger litt, sagte er, dass er keine Hassgefühle gegen die Deutschen hege, wohl aber gegen die Nazi-Ideologie. In seinen letzten Lebensjahren beschloss er, in Schulen zu gehen und mit Kindern zu sprechen: Er wollte ein Zeuge sein, er wollte auf diese Gräueltaten aufmerksam machen, denn er wollte nie wieder einen Krieg.“
Über das AEL Nordmark
Das AEL Nordmark war im Juni 1944 am Kieler Stadtrand gebaut. Es bestand aus mehr als 20 Baracken. Es diente vor allem der Disziplinierung von Zwangsarbeiter, die in der Landwirtschaft und der Rüstungsindustrie arbeiteten mussten. Die Lagerinsassen kamen aus zahlreichen Nationen, den größten Anteil machten Sowjetbürger und Polen aus. Etwa ein Viertel waren Frauen. Der Lageralltag unterschied sich in nichts von einem Konzentrationslager, nur war die Einweisung ins AEL befristet. Die Häftlinge hatten täglich zehn Stunden härteste Arbeiten zu leisten, vor allem Aufräumarbeiten im Kieler Stadtgebiet. Unzulängliche Versorgung, miserable hygienische Bedingungen und unzureichende Krankenversorgung führten dazu, dass viele Häftlinge nicht überlebten. Misshandlungen und willkürliche Erschießungen waren an der Tagesordnung. Insgesamt waren etwa 5.000 Menschen im Lager inhaftiert, mindestens 578 überlebten die Lagerhaft nicht. Auch Kieler Firmen griffen gerne auf die billigen Arbeitskräfte zurück: so die Holsten-Brauerei, die Land- und See-Leichtbau GmbH, die Betonbaufirma Ohle & Lovisa und die Nordland Fisch-Fabrik in Hassee. Wer sich im Lager oder auf den Arbeitskommandos den Befehlen der Wachmannschaften widersetzte, erschöpft zusammenbrach oder anderweitig auffiel, wurde durch die SS willkürlich geschlagen, misshandelt oder sogar erschossen.
Quelle: https://geschichte-s-h.de/sh-von-a-bis-z/a/arbeitserziehungslager-nordmark/
Über die Ruberoid AG
Das AEL Nordmark war im Juni 1944 am Kieler Stadtrand gebaut. Es bestand aus mehr als 20 Baracken. Es diente vor allem der Disziplinierung von Zwangsarbeiter, die in der Landwirtschaft und der Rüstungsindustrie arbeiteten mussten. Die Lagerinsassen kamen aus zahlreichen Nationen, den größten Anteil machten Sowjetbürger und Polen aus. Etwa ein Viertel waren Frauen. Der Lageralltag unterschied sich in nichts von einem Konzentrationslager, nur war die Einweisung ins AEL befristet. Die Häftlinge hatten täglich zehn Stunden härteste Arbeiten zu leisten, vor allem Aufräumarbeiten im Kieler Stadtgebiet. Unzulängliche Versorgung, miserable hygienische Bedingungen und unzureichende Krankenversorgung führten dazu, dass viele Häftlinge nicht überlebten. Misshandlungen und willkürliche Erschießungen waren an der Tagesordnung. Insgesamt waren etwa 5.000 Menschen im Lager inhaftiert, mindestens 578 überlebten die Lagerhaft nicht. Auch Kieler Firmen griffen gerne auf die billigen Arbeitskräfte zurück: so die Holsten-Brauerei, die Land- und See-Leichtbau GmbH, die Betonbaufirma Ohle & Lovisa und die Nordland Fisch-Fabrik in Hassee. Wer sich im Lager oder auf den Arbeitskommandos den Befehlen der Wachmannschaften widersetzte, erschöpft zusammenbrach oder anderweitig auffiel, wurde durch die SS willkürlich geschlagen, misshandelt oder sogar erschossen.
Die Ruberoid AG war einer der Gewinner des NS-Regimes, da es wie den anderen Bauunternehmen wie z.B. Aug. Prien vom Bauboom und der Aufrüstung der Nazis profitieren. Ruberoid war 1897 gegründete und 1916 in eine Aktienunternehmen umgewandelte Unternehmen worden. Es war einst ein reines Dachpappe Unternehmen und stand 1932 vor dem Ende. Die Aufgabenstellung für den damaligen Vorstand war, zur Frage „Liquidation oder Sanierung“ eine Vorschlag zu machen. Aus einem Verlust von -360.000 RM im Jahr 1932 wurden nach einem Sanierungskurs schnell ein positives Ergebnis unter den Nazis.
Ruberoid folgte der deutschen Besatzungsmacht nach Poznan/Polen und gründete dort ein Unternehmen. Es dürfte sehr wahrscheinlich gewesen sein, dass Ruberoid dort auch Zwangsarbeiter eingesetzt hatte.
Mit dem Beginn des Überfalls auf Polen 1939 und dem Beginn des 2. Weltkrieges verbesserte sich die wirtschaftliche Lage des Unternehmens und die Gewinne explodierte. Betrug der Gewinn 1939 noch 50.000 RM, so waren es 1942 151.000 RM und 1943 136.000 RM Gewinn.
Nach 1945 wurde die Ruberoid AG war nach eigenen Angaben Europas größtes Spezialbauunternehmen für Neubau, Sanierung und Wartung von Gebäudehüllen. Ausgehend von der Dachpappen-Herstellung entstand im Laufe der Jahrzehnte ein breit gefächertes Lieferprogramm von Dach- und Dichtungsbahnen, Ruberstein-Wand- und Fassadenplatten, Rubadur-Fassadenplatten, Haft- und Mörtelzusätzen, Flüssigestrichen sowie Spezialbandagen. Bald war das Unternehmen deutschlandweit ebenso wie international tätig. Großen Umsatzeinbußen 1997/98 folgte 2000 die Insolvenz. Das operative Geschäft wurde und wird bis heute von der RUBEROID TEAM AG weitergeführt, die sich als Spezialist für Flachdachabdichtungen beschreibt.