Von 1975 bis 1977 arbeitete ich in der Chemischen Fabrik Kleemann, Hamburg-Billbrook, in der Berzeliusstraße 41. Es war körperlich anstrengende Arbeit, aber es hat mir als junger Mensch sehr gefallen. Die Arbeit mit meinen Kolleginnen und Kollegen war sehr befriedigend und brachte Spaß. Ob der Inhaber, die Kolleginnen am Packtisch oder die Kollegen an der Maschine, alle arbeiteten Hand in Hand. Es war ein Familienbetrieb, so lebte es auch der Inhaber. Ich schätze ihn, auch wenn er 2016 verstorben ist.
Das Unternehmen gibt es heute nicht mehr, auf dem Gelände ist jetzt eine Lagerhalle.
2019 – also 42 Jahre später – recherchierte ich für ein Projekt zum Thema “Arisierung in Hamburg” in der Nazi-Zeit. Ich wollte eine regionale Übersicht für zwei Hamburger Stadtteile erstellen. Es sollten Texte für die heute dort wohnenden Mieter/innen werden, ich will ihnen etwas zu den verfolgten und vertriebenen jüdischen Menschen erzählen, die hier einst wohnten. In einem ersten Fall ist eine Info erschienen. Während der Recherche stolperte ich über einen Vorgang, der die Chemische Fabrik Kleemann betraf. Ich las dort, dass es bis 1938 es ein jüdisches Unternehmen war, das dann “arisiert” wurde. Die Leute, die den Betrieb aufkauften, leben schon lange nicht mehr. Die ehemaligen jüdischen Inhaber waren vor den Nazis geflohen und überlebten den Terror. Nach 1945 hatten sie eine finanzielle Entschädigung durch den Inhaber und den materiellen Schaden durch den deutschen Staat ersetzen lasen – soweit das natürlich überhaupt möglich war.
Denn der Verlust an Würde und Identität durch die Nazis, die verlorenen Jahre, die Angst, aber auch das Gefühl Nachbarn gehabt zu haben, die mit den Nazis marschierten und ihren Rassismus und Antisemitismus nachplapperten, kann nicht wiederhergestellt werden. Auch die ermordeten Familienmitglieder und Freunde wurden dadurch nicht wieder lebendig.
Mich machte diese Recherche fassungslos und unendlich traurig. Und auch wütend, weil ich so lange unwissend geblieben war. Ich fühlte mich hintergangen und hatte zugleich ein schlechtes Gewissen. Dieses Totschweigen und das Vergessen von jüngster Geschichte rüttelt in meinem Innersten.
Über die Arisierung der Chemischen Fabrik Kleemann
Inhaber der Chemischen Fabrik Kleemann waren bis 1938 Martin Leers und Dr. Salomon Rothschild. Sie hatten 1924 die Chemische Fabrik Dr. Rothschild und Leers GmbH gegründet. Daraus gingen 1931 die Ausgründungen Chemische Fabrik Fritz Schluck GmbH und Chemische Fabrik Kleemann GmbHhervor. Sie produzierten u.a. Öle und Fette sowie Desinfektionsmittel.
Während Rothschild/Leers zu gleichen Teilen an ihrer Erstgesellschaft beteiligt waren, gab es 1931 noch Paul Kleemann als Mitgesellschafter der Chemischen Fabrik Kleemann. Rothschild und Leers hielten jeweils 9,500 Reichsmark (RM), Paul Kleemann 1.000 RM. „Er besaß keine Anteile an der GmbH. Lediglich z.Zt. der Gründung hat er pro forma einen Anteil von 1.000 RM – um die Gründung auf den Namen Kleemann zu ermöglichen, während sein Anteil unmittelbar nach der Gründung wieder an die übrigen Anteilseigner abgetreten wurde.“, heißt es. Paul Kleemann war Angestellter auf Provisionsbasis.
Das gleiche Konstrukt erfolgte bei der Chemischen Fabrik Schluck. Fritz Schluck hielt 500 RM. Während Rothschild, Leers und Kleemann das operative Geschäft organisierten, sollte die Chemische Fabrik Schluck als Verkaufsgesellschaft wirken, „und zwar unter möglichst bester Ausnutzung des Namens Schluck, der in der Branche gut … eingeführt war“, schrieb Leers 1953.
Martin Leers war am 7. September 1896 in Hamburg geboren. Er besuchte von 1902 bis 1911 die Oberrealschule Eimsbüttel. Nach der Schulzeit hatte er bis 1917 als Angestellter in der Export- Firma Simon, Israel & Co. in der Hamburger Ferdinandstraße 2 gearbeitet. 1917 wurde er Soldat im 1. Weltkrieg. Von 1919 bis 1923 arbeitet er dann in der Firma Oelwerke Hugo Kantorowicz & Co., Alsterdamm 7 und wurdedort Prokurist. Dr. Salomon Rothschild war am 7. Mail 1885 geboren. 1915 erhält er von der Universität Zürich den Titel Dr. phil.
„Entjudung“ der deutschen Wirtschaft
Zwischen 1936 bis 1938 wurde systematisch die „Entjudung der Wirtschaft“ getrieben. Bis 1939 waren alle jüdischen Geschäfte verkauft oder liquidiert worden. Martin Leers machte das anhand seiner Unternehmen deutlich: Die für ihre Produktion erforderlichen Rohmaterialien waren für ihn nicht mehr verfügbar. „Bedingungen für solche (Lieferungen) war die Mitgliedschaft in dem entsprechenden Reichsverband. Nichtarische Firmen aber waren von solchen Mitgliedschaften ausgeschlossen.“ „Nachdem die Firmen ihre Vorräte an Rohstoffen verbraucht hatten, war es unmöglich, irgendwelche Materialien zu beschaffen.“ Leers und Rothschild „mussten sich nach einem Erwerber umsehen“, der ihre Anteile übernehmen würde. In dieser Situation war Paul Kleemann aufgetreten und hatte die Anteile übernommen. Da er selber über keine eigenen Mittel verfügte, holte er weitere „Geschäftspartner“ mit ins Boot. Auf Vermittlung seines Bruders, Ernst August Kleemann – nach Darstellung von Martin Leers ein SS-Offizier – wurde Alexander Graf Rehbinder geholt.
Das Unternehmen wurde für 80.000 RM verkauft. Über den Betrag konnten Juden aber nicht verfügen, da es eine Sicherungsanordnung gab, so dass Auszahlungen durch die Nazis genehmigt werden mussten. Im Fall von Martin Leers, der 1939 nach England geflohen war, gab es 1939 noch einen Stand von über 10.000 RM. Dessen Verbleib konnte die Bank nach 1945 nicht mehr klären.
Paul Kleemann war nach Darstellung von Martin Leers „begeisterter Nationalsozialist“ und „Aktivist“. „Er trug sein Parteiabzeichen allerdings nur nach Bedarf zur Schau und legte es in der Fabrik nicht an, da er Angestellter einer nichtarischen Firma war.“
Salomon Rothschild schilderte nach 1945 die Verhandlungen zur Übernahme der Unternehmen in einem Rückäußerungsverfahren: Kleemann „hatte enge und gute Beziehungen zur der SS und drohte … an, er werde ihm große Schwierigkeiten bei allen deutschen Behörden bereiten, wenn (er) ihn nicht beim Ankauf der Fabriken begünstigt würde.“ Bei der ersten Verhandlung waren der Bruder von Paul Kleemann und Rehbinder persönlich anwesend. Letztere wiesen ausdrücklich darauf hin, „dass sie beide einen hohen Rang in der SS inne hätten“. Salomon solle sich die Sache „reiflich überlegen.“ 1951 bestritt Paul Kleemann, dass sein Bruder in der SS war.
Die Unternehmen wurden zu 80.000 RM verkauft, was allerdings nicht ihrem damaligen Wert entsprach. Das „goodwill“ wurde beim Kaufpreis nicht berücksichtigt. „Ebenso wurden die Aktiva der Geschäfte und das Inventar zu einem geringen Wert eingestellt und vorhandene Rohstoffe nicht berücksichtigt.“ Es wurde bis zu 80 Prozent niedriger veranlagt. Salomon Rothschild erklärte im Rückerstattungsverfahren 1951 den Vorgang an einem Beispiel: Paul Kleemann hatte mit ihnen den Bestand des Warenlagers „in 15 bis 20 Minuten aufgenommen.”
Im Dezember 1938, fünf Monate nach Abschluss des Kaufvertrages, wollte Paul Kleemann jeweils 14.000 RM von Salomon Rothschild und Martin Leers zurückhaben. Das scheiterte, weil der Kaufvertrag alles abschließend geregelt hatte. Acht Tage vor der Ausreise von Rothschild 1939 sorgte Paul Kleemann dafür, dass dessen Pass gesperrt wurde. In dieser Zwangslage zahlte Rothschild 10.000 RM. „Sobald Sie obige Verpflichtung (Betrag) erfüllt haben werden, … werden meine Mandanten der Polizeibehörde Mitteilung machen, damit die ihre Veranlassung erfolgte Passsperre aufgehoben werden”, schreibt der Anwalt von Kleemann/Rehbinder an Solomon Rothschild.
Verfahren wegen “Rassenschande”: übliche Methode, Juden zu erpressen
Nach Darstellung von Salomon Rothschild war Paul Kleemann der Initiator einer Anzeige gegen ihn wegen „Rassenschande“, was dieser 1951 im Verfahren bestritt. Der Historiker Frank Bajohr beschreibt hierzu in seinem Buch „Arisierung in Hamburg – Die Verdrängung der jüdischen Unternehmen 1933 – 1945“: „Dr. Salomon Rothschild wurde 1939 von der Gestapo aufgrund einer anonymen Denunziation wegen “Rassenschande” inhaftiert. Solche Denunziationen gehörten angesichts der rigiden Verfolgungspraxis der Hamburger Justiz in Rassenschandefällen, die von 1936-1943 gegen insgesamt 1.577 Personen ermittelte und 429 verurteilte, zu einem der wichtigsten Druckmittel gegen jüdische Firmeninhaber.
Hans Robinsohn, der die Verfahren vor dem Hamburger Landgericht eingehend analysierte, kam in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass Anzeigen wegen „Rassenschande“ nicht selten auch aus geschäftlichen Motiven erstattet wurden, nämlich zur Ausschaltung eines Konkurrenten oder um sich vertraglichen Verpflichtungen zu entziehen.“ Die Instrumentalisierung des an sich schon absurden Straftatbestandes “Rassenschande” zu ökonomischen Zwecken schlug sich etwa in den Verhörprotokollen der Hamburger Zollfahndungsstelle nieder. Sie ermittelte eigentlich in Devisenstrafsachen befragte, aber die jüdischen Verdächtigen zugleich routinemäßig nach ihrem Intimleben. Ergaben sich nämlich aus dem Devisenermittlungsverfahren keine ausreichenden Verdachtsmomente für die Strafverfolgung, konnten Tatbestände der ‘Rasenschande’ aus Sicht der Zollfahndung den gleichen Zweck erfüllen: die ökonomische Existenz des jüdischen Eigentümers zu vernichten. Viele Juden, die eigentlich der Kapitalflucht verdächtigt wurden, mussten sich daher einem entwürdigenden Frageritual über ihr Sexualleben unterwerfen.”
Martin Leers konnte im März 1939 zusammen mit seinem Bruder, Siegfried Leers, nach England auswandern. Siegfried Leers war ebenfalls gezwungen worden, sein Unternehmen, Heinrich Leers OHG Textilien, 1938 stillzulegen. Er flüchtete 1939 in die USA. Martin Leers verfügte in England über kein eigenes Einkommen und lebte von der Hilfe von Freunden und wie er angab, von „wohltäglichen Organisationen.“ 1941 musste er England nach dem Beginn des 2. Weltkrieges verlassen, da er als „feindlicher Ausländer“ angesehen wurde. Zunächst flüchtete er nach Panama, um dann 1942 in die USA zu emigrieren. Hier gründete er 1942 zusammen mit seinem Bruder Siegfried Leers ein eigenes Unternehmen Leers Brothers. Aus diesem Geschäft erzielte er in den ersten zehn Jahren aber nur ein geringes Einkommen.
Im Falle von Dr. Salomon Rothschild konnte eine längere Inhaftierung nur dadurch abgewendet werden, dass sich eine Firmenangestellte, wie es Rothschilds Rechtsanwalt nach 1945 formulierte, im Hafenkrankenhaus auf ihre Virginität untersuchen ließ und auf diese Weise den Beweis lieferte, dass ein sexueller Verkehr zwischen ihr und dem Antragsteller niemals stattgefunden hatte.”
Die Eltern von Martin und Siegfried Leers konnten nicht aus Deutschland fliehen. Sie wurden nach Theresienstadtdeportiert. Hermann Leers überlebte das Ghetto nicht. Anna Leers zog zu ihren beiden Söhnen nach San Francisco und ist am 27. März 1957 in den USA gestorben.
Ein Roman erinnert an die “Arisierung”
Die von Peter Offenborn aufgeschriebene Geschichte über Helene Nathan beschreibt u.a. das Schicksal von Helene Nathan (geboren Müller). Sie und ihre Tochter Ella wurden am 4./ 6. Dezember 1941 nach Riga deportiert und kamen dort beide 1942 um Leben. Ihr Sohn Gustav und seine Frau Anna hatten drei Kinder, von denen eines früh an Leukamie starb, Wera Helene. Sonja Nathan konnte nach England fliehen, Annemarie Nathan musste in Deutschland bleiben. Ihre Mutter Anna sorgte durch Reinmachen und Nähen mit zum Unterhalt der Familie. Im Frühjahr 1941 arbeitete Anna im Haushalt von Paul Kleemann, der Leiter der Chemischen Fabrik nach ihrer Darstellung war und „erzählte, dass ihre ältere Tochter [das ist Annemarie], die die Handelsschule besucht hatte, nach Beendigung des Pflichtjahres eine Anstellung suchte. Herr Kleemann sagte darauf ohne Zögern: ‚Kann bei mir anfangen!’ So habe ich dort gearbeitet, bis alles abbrannte, unsere Wohnung und auch die Chemische Fabrik, das war im Juli 1943.“
Die Übernahme der jüdischen Fabrik durch Paul Kleemann beschreibt später Karl Schlegel in seinem Krimi „Richter wider Willen“, allerdings ohne Namensnennung. Er war mit Annemarie Nathan verheiratet.
Wie tief Antisemitismus auch noch im Nachkriegsdeutschland verankert war und die Verfolgten einschüchtern soll, kommt in einem Schriftsatz des Anwalts von Paul Kleemann und Alexander Graf von Rehbinder 1951 zum Ausdruck. Im Rückerstattungsverfahren, das mit einer jahrelangen Rentenzahlung für Rothschild endet, schreibt der;„Die Reaktion auf das den Juden im Nazi-Deutschland zugefügte Unrecht scheint bei den Antragstellern tiefgründiger Hass zu sein.”