Mein Enkelkind ist zu Besuch. Er ist erst vier Monate auf dieser Welt, aber mit ihm beginnt jedes Mal eine Reise in die Vergangenheit und in die Zukunft zugleich. Ich hatte schon ganz vergessen, wie es ist, sich auf die Ebene des Kinders zu bewegen und was es mit einem macht, wenn man sich darauf einlässt.
Gestresst von der Arbeit, im Gedanken beim vergangen und den sich daraus ergebenden Punkte, bin ich in einem anderen Rhythmus. Die übliche Praxis, dass die Fahrt nach Hause die Pause für die nächsten Arbeiten sind, findet heute seine Unterbrechung, da ich zugesagt habe, den kleinen abzuholen. Alles in mir klebt aber an der Woche, am liebsten hätte ich meine Ruhe. Doch das geht nicht. Konnte ich ahnen, welche zauberhaften Kräfte es gibt, die einen den Stress von der Seele nehmen? In der Sekunde, wo ich mich auf die Augenhöhen zu Oskar legte, passierte es: ich kann dir viel bieten, wenn du willst. Und so passierte es. Das umdrehen von der Rückenlage auf die Seite auf den Bauch klappt, nicht nur einmal. Ohne jeden Stress wurde die Schräglage wiederholt. Ich dachte, wenn es nicht klappt, kommt Unzufriedenheit auf. Doch weit gefällt, es wurde wieder und wieder versucht, dies mal die Beine noch mehr angewinkelt. Am liebsten würde ich helfen, nur einen kleinen Stups … Natürlich nicht! Oskar ist zufrieden mit sich und seiner Veränderung. Klappt es mit der Bauchlage, ist zwar noch der Arm eingeklemmt, aber es stört ihn nicht. Es gibt etwas anderes zu entdecken, den jetzt wird die Welt nicht mehr liegend auf dem Rücken betrachtet, man sieht die Welt aus einer neuen Perspektive, ist in ihr, weil alles einen Anfang hat, auf dem Boden ist. Bei diesem Gedanken muss ich schmunzeln und erinnere mich, wie mein Klassenlehrer in der Realschule von Marx und Hegel erzählte und das Marx die Gedanken über die Welt auf die Füße gestellt hatte. Und ich denke wieder an Oskar: Bald kommt der aufrechte Gang. Manch einer wird versuchen, ihn vor Gefahren zu schützen und er wird es do machen, wie jetzt: er dreht sich auf die Welt, auch wenn der Arm eingeklemmt ist. Stört nicht, es gibt etwas neues.
Mit seinem auf dem Rücken liegen, ist jetzt sowieso vorbei. Der Rücken kann gebogen werden, der Kopf dreht sich neugierig zu Dingen, die er hört, die sich bewegen. Kersten redet, das Köpfchen sucht sie und dazu muss der Rücken angespannt werden. Was aus der Blickrichtung Rücken nicht erkannt wird, wird gesucht. Oskar kann sich mit der Welt ein Stück mehr auseinandersetzen. Dies sagt er mir auch deutlich, als die Unterlippe sich leicht nach unten bewegt und das Gesicht sich leicht rötet (die Augenbraunen werden rötlich). Mein Dialog mit ihm gefällt ihn für einen Augenblick, ab das mit dem Rücken und strecken ist für ihn im Moment erledigt. Da muss doch mehr sein, dass weiß er schon. Wir schlendern durch die Wohnung . Er muss sich meine Erklärungen anhören über eine Küchenpflanze. Das durchstreifen des Köpfchen durch den Blätterwald interessiert ihn wenig. Fast höre ich seinen Vorwurf, das er seine Welt selber entdecken, ertasten will. Oskar bestimmt seine Welt, wir sind nur Mittel zum Zweck.
Irgendwann legt er sein Köpfchen an meine Schulter und nimmt aus dieser Perspektive die Welt, also unsere Wohnung zur Kenntnis. Ich fürchte, er schläft ein, doch er hat nur seine Blickrichtung leicht geändert. Wenn er wüsste, was er für beruhigende Impulse aussendet? Ich gebe ihm sein Fläschen mit Muttermilch, die er zufrieden austrinkt. Ab und an fallen die Augenlieder runter und die Augen verdrehen sich. Am Ende ist die Pulle leer und Oskar quatscht mit mir, erzählt mir seine Eindrücke. Will er eine Antwort, spannt sich die Oberlippe und spitzt sich nach vorne zu, der Mund öffnet leicht, ein leichtes lächeln umgibt sein Gesicht. Meine Antwort führt bei ihm zu neuen Erzählungen. Irgendwann merke ich bei mir, dass alle Anspannungen aus vergangenem und noch zu erledigenden verschwunden sind. Oskar hat sie vertrieben, ich bin auf seine Sirenenklänge rein gefallen und habe meine Welt mit ihm zu seinen Konditionen geteilt.
Am nächsten Morgen sage ich zu Kersten, wie der Rhythmus die Kinder Wunder bewirken. Es erinnert mich an die Zeit mit unseren Kindern. Abends durchblättere ich zufällig ein Fotoalbum und stolpere über ein Bild mit einem vier Monate altem Kind auf dem Arm. Es hat sich zufrieden an meine Schulter gelegt, ich bin ganz in Erinnerung und plötzlich merke ich, wie mich dieses wohltuende Gefühl durchflutet, der Tag fällt ab und der Stress legt sich neben meine Schulter, auf der anderen liegt Philip.