Zu Beginn des Jahres 2010 steht eine Tarifrunde im öffentlichen Dienst für 1,5 Mio. Beschäftigte des Bundes und der Gemeinden an. Ab Mai 2010 wird es eine Tarifauseinandersetzung in der Metall- und Elektroindustrie für ca. 3,4 Mio. Beschäftigen geben. Ebenfalls in einer kleinen Lohnrunde wird sich ver.di in der Papierverarbeitung für die insgesamt 76.000 Beschäftigten ab dem 30.04.2010 befinden. Vor dem Hintergrund der Rezession und des nach rechts verschobenen Kräfteverhältnisses im Bundestags deutet sich eine politische(re) Lohnrunde an. Die rechnerische Formel einer expansiven Lohnpolitik (Preis, Produktivität und Umverteilung) greift in der Krise nicht, ist eben nur Ausdruck einer Formel, nicht aber eines tarifpolitischen Vorgehens.
In der Papierverarbeitung muss ver.di prüfen, ob sie den Weg der Anpassung an die wirtschaftliche Lage der Branche mitgeht oder ob man zu einem strategischen Wechsel bereit ist und sich wieder mehr auf ihre historischen Wurzeln in der Tarifpolitik umzusehen: Mit realistischen Blick auf den Grad der Verankerung wieder die notwendigen gesellschaftlichen Fragen zu stellen, sie in der Tarifpolitik zum Thema zu machen und sich auf die Betriebe ausrichten.Inhaltlich werden die Arbeitgeber vermutlich mit dem Punkt des Lohnverzicht kommen und prüfen, wie man mit betrieblichen Öffnungen an „betriebliche Bündnisses“ herankommt, die im Kern die Gewerkschaft aus dem Betrieb verscheucht und die Beschäftigten auf die Unternehmensphilosophie einschwört. Die Unternehmer werden für sich prüfen, wie sie vor dem Hintergrund einer Manteltarifrunde 2011 in der Papierverarbeitung diese Frage bereits in 2010 angehen oder vertagen. Generell wollen sie längere Arbeitszeiten, egal wie sich die wirtschaftliche Lage darstellt. Seit 2005 verlängert sich die Arbeitszeit in der Papierverarbeitung von 35-Stunden auf 37 – 38 Stunden im Durchschnitt der Woche.
Für ver.di stellt sich in er Lohnrunde der Papierverarbeitung trotz Rezession und steigenden Arbeitslosigkeit die Frage, wie sie sich strategisch und betrieblich positioniert. Die Option, das mit dem Anziehen der Konjunktur in 2011/2012 die Rahmenbedingungen sich wieder verbessern, wird sicher eine Rolle spielen. Die vergangenen Jahre zeigen aber, dass das nicht funktioniert. In Zeiten guter Konjunkturdaten und eines ausgesprochenen Wachstums in der Papierver-arbeitung wurde ver.di 2005/2006 in einer Lohn- und Mantelrunde an den Rand einer Niederlage durch die Arbeitgeber getrieben, von der sie sich bis heute nicht vollständig erholt hat. Der Lohnabschluss 2008 (über 24 Monate) in der Papierverarbeitung und die an Warnstreiks beteiligten Belegschaften haben gezeigt, dass ver.di sehr wohl in der Lage ist, eine Tarifauseinandersetzung bei schwierigeren Rahmenbedingungen zu bestehen.
Die papierverarbeitende Industrie ist zeitversetzt auch von der Rezession betroffen. So ist Umsatz z.B. der Wellpappe und Faltschachtelunternehmen im Vergleich 1-7/2009 zum Vorjahreszeitraum um – 13,% zurückgegangen. Schaut man sich den Auftragsindex für diesen Zweig in diesem Jahr an, so liegt der 5-8 Prozent unter Vorjahr. Die Pressekonferenzen der beiden Wirtschaftsverbände Wellpappe und Faltschachtel 2009 sprachen von anhaltenden Herausforderungen für die Zukunft. Nicht alle Betriebe gleichermaßen und nicht alle Segmente sind von der Rezession betroffen oder gleichzeitig betroffen. ver.di hatte sich während der Lohnrunde in der Druckindustrie 2009 noch auf den Quatsch der Arbeitgeber argumentativ eingelassen, dass man nur von einer betrieblichen Rezession oder – konjunktur sprechen kann, nicht aber die gesamte Branchen als Maßstab für das gewerkschaftliche Herangehen/Forderungen nehmen. Gibt es keine gemeinsamen Bezugspunkte für die Lohnforderungen wie Preis-, Branchentwicklung oder Umverteilung, verlässt man den Weg von einer solidarischen Lohnpolitik, die davon aus geht, dass die Starken (gut organisierten) Betriebe den Schwachen (gering organisierten Belegschaften) durch ihr Handeln zur Teilhabe am Einkommenswachstum helfen. Einer Lohnpolitik, die sich dafür einsetzt, dass der gesellschaftlicher Reichtum die Arbeitnehmer/innen erreicht und nicht wie in der Vergangenheit, die Unternehmer am Wachstum die Profiteure sind.
Für ver.di stellt sich die Frage, ob sie an ihrem bisherigen Ansatz festhält, die allgemeine Preisentwicklung für 2010 und die Entwicklung der Produktivität der Papierverarbeitung als Maßstab für ihre Lohnforderung macht oder ob sie sich in die Reihe der Gewerkschaften stellt, die von Einkommenswachstum und Umverteilung sprechen, die ein Anti-Krisen-Konzept in die betriebliche Auseinandersetzung einbringen.
ver.di gehört bundesweit zu den Gewerkschaften, die sich nicht nur der Primärverteilung über die Lohn- und Gehaltsrunden stellt, sie ergreift auch aktiv Position bei der Sekundärverteilung über die Möglichkeiten des Staates ein. Die Forderung nach dem gesetzliche Mindestlohn und die Erhöhung von Hartz IV geht in die Richtung, den Niedriglohnsektor aktiv anzugehen. Was ver.di insbesondere im Bereich der Druck- und papierverarbeitenden Industrie schwer fällt, ist beides in einer konkreten Tarifrunde praktisch zu verbinden. Diese Frage in 2010 nicht zustellen, wird dazu führen, dass die Branchenlage der Papierverarbeitung, die Reflektion der Arbeitgeberargumentation in den Köpfen der Beschäftigten bei steigenden Arbeitslosigkeit auf über 4 Mio. Menschen, dazu führen kann, Belegschaften für eine Auseinandersetzung aktive Lohnforderung nur schwer zu gewinnen.