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Holger Artus

Was ich alles noch aus den Akten über die Zwangssterilisation der Sinti und Roma im Hamburg 1944/45 erfuhr:

Am 11. November 2024 soll um 17 Uhr eine Kundgebung in der Bülowstraße in Ottensen stattfinden, um an 13 Menschen zu erinnern, die zwischen November 1944 und Februar 1945 in der Frauenklinik des AK Altona in der Bülowstraße 9 zwangssterilisiert wurden. Sie waren Sinti, Roma und People of Color. Sie waren zwischen 15 oder 42 Jahre alt.

Aus vielen Gesprächen und mancher Mail habe ich mitgenommen, dass es ein schwieriges Thema ist, da aus verschiedenen Perspektiven darauf gesehen wird: aus Sicht der Angehörigen; aus Sicht von Vertretern der Opferorganisationen; aus Sicht von Menschen aus der Zivilgesellschaft, die auf die Verantwortung des „Täter-Staats/Volkes“ hinweisen, und aus weiteren Perspektiven. Dies im Diskurs zu besprechen ist nicht immer leicht. Alle eint der Blick auf die Betroffenen und die Verantwortung der Menschen aus dem „Täter-Staat“.

Ich werde etwas über diese NS-Opfer im Netz erzählen, aber dabei nur die Vornamen ausschreiben und die Nachnamen abkürzen. Ich finde das zwar nicht ideal, aber meine Priorität sind die Angehörigen. Da ich diese in den meisten Fällen nicht ausfindig machen konnte, habe ich mich für diese Form entschieden. Ich erinnere mich an die Tränen des Sohnes eines Opfers, der bei einem Besuch bei uns zu Hause über seine Mutter sprach, die von den Ärzten körperlich misshandelt wurde.

Seit zwei Jahren habe ich zu den 13 NS-Opfern recherchiert und mehr als 1.000 Dokumente ausgewertet. Es gab Gespräche mit Angehörigen und ihren Verbänden. Nicht erwartet hatte ich bei der Recherche, dass ich auf andere Themen stoße, die ich nicht im Blick hatte und die mir als „Hobby-Historiker“ nicht bekannt waren. Ich bin auf Aspekte gestoßen, die in den Akten enthalten sind, aber ursächlich nicht immer mit den Sinti und Roma zu tun haben, meine Annahmen jedoch bestätigten, weil sie in den damaligen Verfahren erwähnt wurden.

Im Folgenden möchte ich anhand der Personen auf diese Themen hinweisen. Es ist eher eine Auflistung, da dazu noch weiter recherchiert werden muss. Ich habe mir vorgenommen, dies zu tun, kann aber nicht sicher sagen, ob es in allen Fällen gelingt. Einzelne Themen, wie die Zwangsarbeit der Sinti und Roma bei Gross Egmont in Rothenburgsort, werde ich bereits in diesem Jahr aufgreifen.

Annemarie M.

Die 14-Jährige war eine People of Color bzw. BPoC. Ich war mir des Themas ihrer systematischen Sterilisation nicht bewusst. Ihre Mutter war bereits in den 1930er Jahren sterilisiert worden, weil sie POC war. In der Literatur habe ich gelesen, dass mindestens 436 von 500 bis 600 Nachkommen aus Verbindungen afrikanischer Soldaten und deutscher Frauen 1937 in Deutschland während der NS-Zeit sterilisiert wurden.

Minna K.

Die 42-Jährige war mit einem Nicht-Sinto verheiratet und hatte zwei Kinder. 1944 war sie alleinerziehend. In den Unterlagen fand ich ihren Vater, der am 20. Mai 1940 über den Hannoverschen Bahnhof deportiert wurde, dessen Name jedoch nicht auf der dortigen Gedenktafel steht. Außer ihr wurde ihre ganze Familie deportiert, entweder 1940 nach Belzec oder bis 1942 durch willkürliches Vorgehen der Kriminalpolizei.

Meta B.  

Die 35-Jährige war seit 1918 mit einem Hafenarbeiter verheiratet. Das Paar hatte neun Kinder. Aus meinen Unterlagen habe ich auch entnommen, dass die Krimanalpolizei vor Ort in der Frauenklinik war u.a. mit ihnen darüber sprach, wie bei den Sintizza zu verfahren sei, die Kinder unter 14 Jahren hätte. Sie sollten für die Dauer des Aufenthaltes für 14 Tage ins Versorgungsheim Farmsen untergebracht werden.

Mit großer Aufmerksamkeit habe ich ein Schreiben des Reichssicherheitshauptamtes vom 29. Januar 1943 gelesen, der auf dem so genannten Auschwitz-Erlass von Himmler vom 1. Dezember 1942 basierte, das die Einweisung aller Sinti und Roma in KZs anordnete, egal ob sie mit Nicht-Sinti zusammenlebten oder nicht.

Quelle: Staatsarchiv Hamburg, 351-11_34677

Laura, Emilie und Martin R.

Die drei jungen Menschen (14, 15 und 18 Jahre alt) waren Ausgangspunkt meiner Recherchen 2022. Sie lebten bei uns im Viertel. Laura ging bis 1944 in die Schule Schanzenstraße. Es wird in ihren Vorgängen aus dem Staatsarchiv geschildert, wie Hamburger Kriminalbeamte in ihren Wohnort nahe Celle kamen, um sie am 8. November 1944 abzuholen und in die Frauenklinik des AK Altona zu bringen. In den Akten befinden sich auch Teile des Verfahrens gegen den Oberarzt der Frauenklinik, Hinselmann. Dort heißt es, dass Sinti und Roma nicht in staatliche Krankenhäuser aufgenommen werden durften. Gesundheitssenator Ofterdinger hatte Hinselmann bereits im August 1944 über eine Ausnahme informiert, dass Sinti und Roma demnächst in die Frauenklinik kämen, um sterilisiert zu werden.

Josef W.  

Der 34-Jährige wurde im Februar 1940 zur Wehrmacht eingezogen, jedoch Ende Januar 1941 aus „rassenpolitischen Gründen“ entlassen und ins Ghetto Siedlce im besetzten Polen gebracht. Dort hatte die SS ein bewachtes Ghetto eingerichtet, in dem etwa 15.000 Juden lebten. In einem separaten Gebäudekomplex wurden deutsche Sinti und Roma festgehalten, die im Mai 1940 deportiert worden waren. Ende 1942 sollte er erneut zur Wehrmacht, in eine sogenannte Bewährungseinheit, eingezogen werden, wurde jedoch entlassen und kehrte nach Hamburg zurück. Aus dem so genannten Wiedergutmachungsverfahren ergeben sich die Stationen seiner Zwangsarbeit in Hamburg. Es wird deutlich, dass die Stadtreinigung ab 1944 für die Einsatzplanung verantwortlich war, die Menschen aber vom Amt an die jeweiligen Unternehmen übergeben wurden.

Karl und Sonja L. 

Der 37-jährige Karl lebte mit seinen vier Kindern und seiner Partnerin,Anna, zusammen. Er beschreibt, wie die Kripo-Beamten ihn 1944 aufforderten, sich von seiner Partnerin zu trennen. Sie gingen sogar so weit, ihm seinen „Sinto-Status“ zu entziehen, wenn er dies täte. In der Richtlinie von 1943, die ich in den Akten von Meta B. gefunden habe, wurde dieses Szenario beschrieben. Er lehnte es ab.

Sonja L. war eines seiner vier ehelichen Kinder. Sie war damals 15 Jahre alt. Die anderen drei seiner Kinder waren unter 12 und wurden nicht sterilisiert. Laut dem Buch von Gisela Bock („Zwangssterilisation im Nationalsozialismus“) war dies aber nach dem „Endsieg“ als nächster Schritt der Ausrottung geplant gewesen. Sein Sohn aus einer anderen Beziehung, Bernhard K., lebte mit seiner Mutter in Berlin und wurde 1943 von dort nach Auschwitz deportiert. Er überlebte und wohnte nach 1945 mit der Familie in der Adolphstraße bzw. Bernstorffstraße.

Asta und Jani R. 

Die beiden 14- und 15-jährigen waren die Kinder von Dorothea R. Wie Laura, Emilie und Martin R., Sonja und Karl L. gehörten sie alle zu einer Familie. Sieben der 12 sterilisierten Sinti*zze von November 1944 bis Februar 1945 waren alle aus dieser Familie. Sie wurden alle von den Nazis verfolgt. Einige wurden nach Auschwitz deportiert, andere in Hadamar ermordet oder in andere KZs verschleppt, körperlich misshandelt, ihre Existenz- und Lebensrechte entzogen.

Christian S.  

Der 34-Jährige und seine Familie wurden im Mai 1940 über den Hannoverschen Bahnhof nach Belzec deportiert. Ihre Wohnung in Hamburg mussten sie zwangsweise aufgeben, der gesamte Haushalt wurde ihnen geraubt. Über 900 Sinti wurden aus Hamburg damals verschleppt. Zusammen mit polnischen Juden mussten sie Arbeitslager einrichten. Christian S. wurde im Lager von der Wachmannschaft gezwungen, Musik zu spielen, da er Berufsmusiker war. Das ursprüngliche Arbeitslager wurde im Oktober 1940 aufgelöst, und Christian S. floh mit seiner Familie. Im Dezember 1940 kehrten sie nach Hamburg zurück. Aus seinen Unterlagen geht hervor, dass ihn der Kripo-Beamte Paul Everding zwang, eine Erklärung zu unterschreiben, dass seine Kinder sterilisiert würden, sobald sie das 12. Lebensjahr erreicht hätten. Sehr eindrücklich schildert Josef W. im Wiedergutmachungsverfahren seine Zwangsarbeit als Sinto und wie sie behandelt wurden. Zeitweise musste er im Lager „Langer Morgen“ leben. Es ist unklar, ob er dort 50 Tage im AEL Langer Morgen war.

Maria E.

Die 41-Jährige lebte mit ihrem Sohn und ihrem Mann, einem Nicht-Sinto, in Wandsbek. In ihrem Wiedergutmachungsverfahren wird im Detail sichtbar, wie einzelne Verantwortliche der Sozialbehörde nach 1945 versuchten, die Sinti und Roma weiterhin zu verfolgen und ihnen Schaden zuzufügen. So versuchten Beamte, ihr den „Sonderhilfe-Ausweis“ zu entziehen, weil ihr Sohn während der NS-Zeit wegen Diebstahls verurteilt wurde. Hier entblätterte sich mir die Geschichte eines 16 jährigen, der sich gegen die Nazis organisiert wehrte und dafür 1943 wegen Vergehen gegen den § 129 StGB für 1 ½ Gefängnis verurteilt wurde. Seine Geschichte sollte man m.E. unbedingt erzählen.

quelle: Staatsarchiv Hamburg, 351-11_27359

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